Am nächsten Tag erledigte ich meine Haushaltsaufgaben. Samstags waren das vor allem ätzende Putz- und Aufräumarbeiten.
Danach wusste ich nicht, was ich tun sollte.
Ich ging in die Bibliothek, zog nach und nach Bücher aus den Regalen, doch konnte mich nicht entscheiden eines zu lesen.
Der Computer war, wie so häufig, nicht hochgefahren. Überlegend starrte ich vor mich hin.
Plötzlich fiel mir ein, dass ich das seltsame Buch gefunden hatte und es in der Kiste in der Ecke verstaut hatte. In dem Durcheinander der letzten Tage hatte ich es tatsächlich vergessen.
Aufgeregt kramte ich es aus der Kiste und wickelte es vorsichtig aus der Tüte. Ich machte es mir gemütlich und versank in dem Buch. Es ging um Computer und vor allem ging es darum, was zu tun war, um ein solches Gerät zu bedienen, es in Stand zu halten und sogar zu reparieren. Meine Augen wurden immer größer. Es juckte mich in den Fingern das alles auszuprobieren. Doch das war nicht möglich. Zum Einen war der Computer hier nicht kaputt. Er machte nur, was er wollte und zum anderen war er Systemeigentum. Ich durfte nicht daran herumexperimentieren, sonst könnte es richtig Ärger geben.
Das Buch war dick und deshalb musste ich es am Abend doch wegpacken, ohne es beendet zu haben und schlafen gehen.
Am Sonntag las ich direkt nach dem Frühstück weiter. Am Sonntagabend sah ich nur noch verschwommen, doch ich war aufgeregt und glücklich. Das Buch wickelte ich wieder ein und versteckte es im Schrank in meinem Zimmer unter einigen abgetragenen Kleidern.Am Montagmorgen setzte sich Quasselstrippe gegenüber von mir an meinen Frühstückstisch.
„Ich habe dich vermisst", eröffnete sie mir lächelnd. Ich erwiderte etwas, das wie ein „Pfft ..." klang oder so ähnlich.
„Ich soll dir schöne Grüße von meinem Bruder ausrichten. Ich glaube, du würdest ihn mögen. Er redet auch nicht viel und ist immer sehr ..." Sie wedelte mit ihrem Löffel in der Luft herum. „...bedacht. Außerdem sieht er wirklich gut aus", sagte sie mit wackelnden Augenbrauen und ich sah sie mit gerunzelter Stirn an. „Wirklich sexy. Wobei das irgendwie eklig ist sowas über seinen Bruder zu sagen." Sie schauderte. „Naja, du solltest ihn mal kennenlernen. Du kannst ja mal mitkommen", sagte sie hoffnungsvoll.
Ein Stich fuhr in mein Herz.
„Auf gar keinen Fall", sagte ich brüsk.
Als keine Antwort kam, sah ich auf.
Sie sah aus, als hätte ich sie jetzt doch verletzt. Ihre Augen zeigten deutlich, dass ihr meine Antwort wichtig gewesen war. Jetzt wo ich es geschafft hatte sie zu treffen, kam es mir nicht mehr so erstrebenswert vor und ich fühlte mich gar nicht gut.
„Ähm ... ich ...", setzte ich an, doch bevor ich mir überlegen konnte, was ich überhaupt sagen wollte, war sie aufgestanden.
„Ich glaube ich frühstücke heute mal bei den Anderen", sagte sie, wich meinem Blick aus und ging mit ihrer Schüssel und ihrem Glas hinüber zu C-2 ... – ach wem machte ich was vor. Sie ging zu Beerchen, Äpfelchen und Flocke.
Der unangenehme Druck auf meiner Brust war wieder da.
Wieso konnte sie mich nicht in Ruhe lassen? Dann gab es kein Problem und alles wäre einfacher.
Ich stand abrupt auf, brachte mein Geschirr weg und mit einem Blick auf die schon wieder lachende Quasselstrippe, verließ ich den Speisesaal.
Ich ging, wie so oft, in die Bibliothek und verkroch mich dort. Ich verpasste, wie so oft, das Mittagessen und ging am Nachmittag in den Garten, um mich dort abzureagieren.
Auch beim Abendessen kam sie nicht zu mir. Nicht am nächsten Tag und nicht am Tag darauf. Der unterschwellige Druck in meiner Brust wurde immer stärker und ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Sie war nicht unfreundlich zu mir oder ignorierte mich, aber sie sprach auch nicht mit mir, wenn sie es nicht musste und mit mir musste Niemand sprechen, wenn er es nicht wollte.
Eigentlich war es das gewesen, was ich gewollt hatte. Und trotzdem war ich schlecht gelaunt. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
Hoffentlich würde sie bei der nächsten Gelegenheit benannt werden, dann müsste ich sie nicht mehr sehen und nicht über sie nachdenken.Ich wühlte im Dreck des Salatbeetes. Eigentlich rupfte ich Unkraut, aber es fühlte sich an, wie wühlen im Dreck. Ich liebte diese Arbeit und konnte meinen Gedanken nachhängen, während ich mich Reihe für Reihe vorarbeitete. Die Sonne schien warm auf mich herab. Das war der Grund warum ich mein Haar nicht nur zu zwei dicken Zöpfen geflochten und um meinen Kopf geschlungen hatte, sondern auch den riesigen Sonnenhut trug, um die unattraktiven Sommersprossen und einen Sonnenbrand zu vermeiden.
Locke, die keinen Sonnenhut trug und bei ihrer gebräunten Haut nicht Gefahr lief zu verbrennen, arbeitete nebenan im Möhren- und Zwiebelbeet und daneben sah ich weitere gebeugte Rücken und gesenkte Köpfe, die mit Tüchern umschlungen waren, um die Haare zusammenzuhalten und sie vor Dreck zu schützen. Alle arbeiteten konzentriert vor sich hin. Wie ich hingen sie ihren eigenen Gedanken nach und genossen den Rhythmus der langsamen Arbeit.
Ich war froh, dass Quasselstrippe nicht hier war und mit ihrem Geplapper die Ruhe störte. Ihr andauerndes Gerede war einfach störend gewesen.
Sie hatte schon seit zwei Tagen nicht mit mir geredet. Ob ihr Bruder wirklich das Gegenteil von ihr war, was das Gerede anging? Und sah er wirklich so gut aus, wie sie es erzählt hatte? Wahrscheinlich war er, wie sie, klein und zierlich gebaut. Für eine Frau war das eine gute Sache, aber bei einem Mann war es nicht das, was ich mir erträumte. Ich bräuchte einen größeren Mann. Einen bei dem ich mich anlehnen könnte und nicht die Große war, die Trost spenden musste. Und es wäre schön, wenn er ... Oh Mann, wohin waren meine Gedanken abgeschweift?
Neues Thema! Bewusst versuchte ich an das Computerbuch zu denken, das ich mittlerweile noch einmal gelesen hatte, doch meine Gedanken flogen immer wieder zurück zu Quasselstrippe und ihrem Bruder und wie er wohl hieß. Wie sie meinem Blick ausgewichen war, als sie gegangen war. Ich hatte nicht das Gefühl gehabt unfreundlicher zu ihr gewesen zu sein, als vorher. Doch vielleicht war es für sie etwas anderes, weil es um ihre Familie ging.
Locke sah zu mir herüber und zog so meinen Blick auf sich. Sie lächelte mich an und stimmte ein rhythmisches Lied an. Wir sangen bei den Gesangsabenden oft zusammen. Ihre klare Stimme erhob sich leicht über den Garten in die Lüfte. Es war ein simples Lied, das die Arbeit erleichterte. Es gab viele Strophen des Liedes, welche immer wieder spontan erweitert wurden.„Der Tag ist schön
Die Luft ist klar
Der Frühling kommt
Und wir sind daIch blicke auf
Die Sonne scheint
Sie strahlt und zeigt
Was kommen mag."Der Refrain wurde wortlos gesummt und wiederholte die Melodie der Strophe noch einmal. Alle Mädchen im Garten summten gemeinsam. Ich summte mit und sah, als ich den Kopf hob, Quasselstrippe etwas entfernt auf einer Bank sitzen. Sie schaute zu uns herüber. Ich senkte meinen Blick schnell wieder auf mein Beet.
Versehentlich rupfte ich eine Salatpflanze aus und runzelte unwillig die Stirn.
Locke sah das Mädchen im Bohnenbeet an und gab damit die Strophe weiter. Ihre Tenor-Stimme sang, etwas schief, eine fröhliche zweite Strophe, auf die eine dritte heitere Strophe aus dem Kräutergarten folgte. Danach war es einen Moment still und als ich aufsah, bemerkte ich, dass die Mädchen mich ansahen und offensichtlich wollten, dass ich die nächste Strophe sang. Einen Moment überlegte ich. Viel nachdenken half hierbei nicht, meist musste man einfach los singen und die Strophe ergab sich beim Singen. Der Trick war die Gedanken auszuschalten und die Worte auszusprechen, die einem in den Sinn kamen:„Der Tag, der kommt
Wird besser sein
Sie sehnt und hofft
Doch bleibt alleinBleibt doch bestehn
Die Einsamkeit
Dass Einer kommt
Und Sehnsucht treibt."Etwas stockend setzte der Refrain nach meiner Strophe ein. Er war viel langsamer und melancholischer, als er vorher gewesen war.
Ich hob meinen Blick vom Beet, um die Strophe weiterzugeben, und zu sehen welches Mädchen bereit war zu singen. Bestürzt bemerkte ich, dass Locke neben mir leise schniefte und auch die anderen Mädchen schienen bedrückt. Spatz wischte sich verschämt übers Gesicht und hinterließ einen Dreckstrich auf ihrer Wange. Quasselstrippe saß nicht mehr auf der Bank.
Von mir unbeabsichtigt war ich ins Moll abgerutscht und hatte so die leichte Stimmung vertrieben, die das Lied eigentlich verbreitete.
„Entschuldigung", sagte ich leise und beschämt. Locke, die nie zu viele Worte verlor, sah zu mir, lächelte mich nur schief an und zuckte mit den Schultern.
„Manchmal gibt es solche Tage", murmelte sie leise.
Wahrscheinlich hatte sie recht.
Aber ich hatte eindeutig die Stimmung versaut.

DU LIEST GERADE
Die Einsamkeit der Namenlosen
FantasíaBei der Geburt eines Kindes gibt die Mutter diesem einen Namen. Im System hat die Mutter keinen Einfluss auf den Namen, doch sie weissagt damit das zukünftige Leben des Kindes. Kinder, deren Mütter bei der Geburt sterben, bleiben namenlos und wachse...