4. Warum ich Sonntage hasse

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Henriettas Weckglocke hallte, wie jeden Morgen, schon von Weitem durch meine Tür.
Normalerweise war ich ein paar Minuten vorher wach. Meine innere Uhr bewahrte mich meist zuverlässig davor, aus dem Schlaf gerissen zu werden.
Mit Herzrasen senkrecht im Bett zu sitzen war wirklich nicht meine bevorzugte Art aufzuwachen.
Heute zog ich mir nur die Decke über meinen Kopf und drehte mich stöhnend auf die andere Seite.
Am Sonntag nach dem Bestimmungstag - der immer am ersten Montag im Monat stattfand - war Besuchstag und die Familien hatten die Möglichkeit ihre Töchter und Schwestern im UBH zu besuchen. Das war mein zweitverhasstester Tag. Schlimmer war nur der Bestimmungstag selbst. Besuch war schön und gut, wenn man denn welchen bekam.
Etwas hatten wir namenlosen Mädchen gemeinsam. Wir hatten keine Mütter mehr, weil sie bei unserer Geburt starben.

Der Name ihres Kindes wurde der Mutter sofort nach der Geburt „eingegeben". Wie genau das funktionieren soll, wusste ich nicht. Als Kind hatte ich häufig gefragt, wer denn diese Namen eingab, doch das konnte mir Niemand beantworten. Es war nicht mehr bekannt, wann genau dieses Namengeben begann. Aber seit Gründung des Systems wurden diese Benennungen, die manchmal Bestimmungen genannt wurden, von anwesenden Regierungsbeamten oder wenn es zu plötzlich geschah, von irgendeinem Anwesenden festgehalten. Diese Weissagungen bestimmten dann das Leben des soeben geborenen Babys. Der Name legte fest, welche Ausbildung man erhielt und welchem Beruf man nachgehen musste.
Das war ein tolle Sache, wenn es eine Mutter gab, die einen Namen geben konnte.
Wenn aber die Mutter bei der Geburt starb, gab es ein Problem. Dann wurde das Baby nicht benannt. So war es bei uns allen hier im UBH passiert.
Wir wurden nur durchnummeriert. Natürlich bekam jeder Bürger des Systems bei der Geburt eine Nummer zugeteilt, die waren aber nur für offizielle Dinge nötig. Ansonsten wurde der Name genutzt.
Meist wurden wir ‚die Namenlosen' genannt oder manchmal ‚die Unbestimmten'. Wie auch immer man uns nannte, wir waren es nicht wert einen Namen zu tragen bis klar war, was wir in Zukunft beruflich machen würden. Tatsächlich war es sogar unter Strafe verboten uns anders als mit unserer Nummer anzusprechen.
Das hatte ich nie besonders ernst genommen. Ich vermute, dass ich nicht die einzige gewesen war, der es so ging. Das war wohl auch der Grund, warum ich „die Geschichte meines fatalen Fehlverhaltens" so regelmäßig erzählen musste.
Wir wurden von der Gesellschaft isoliert. Mädchen wuchsen von klein auf in den Unbestimmtenhäusern, kurz UBHs auf. So war es gesetzlich vorgeschrieben. Es gab zwar UBHs für Jungen, aber wenn sie Glück hatten, wuchsen sie bei ihren Vätern auf. Diese durften nämlich entscheiden, ob ihre Söhne bei ihnen aufwuchsen oder im UBH. Soweit ich wusste, behielten die meisten Väter ihre Söhne bei sich.
Ich flocht gedankenverloren mein Haar und öffnete es wieder.
Nicht, dass ich je Kontakt mit den namenlosen Jungen gehabt hätte. Wir waren in weit entfernten Stadtteilen untergebracht.
Anscheinend traute man den Vätern nicht zu, Töchter aufzuziehen, aber Söhne schon. Bei mir hätte das so oder so keinen Unterschied gemacht. Wenn ich ein Sohn gewesen wäre, hätte mein Vater mich trotzdem weggegeben.
Wahrscheinlich.
Oder er hätte mich bei sich behalten, wenn ich nicht ich gewesen wäre.
Vielleicht wollte er mich persönlich nicht, weil ich ein Mädchen war.
Oder er hatte mich hässlich gefunden oder wer weiß, was er gedacht hatte.
Vielleicht war er auch tot.
Ich wusste nicht, ob ich einen lebenden Vater hatte.
Ich wusste auch nicht, ob ich ältere Geschwister hatte, denn nie kam Jemand zu Besuch für mich.

Seufzend stand ich auf und zog die Zehen an, als ich mit den nackten Füßen den kalten Betonboden berührte. Ich würde bei Gelegenheit die Augen nach einem ausrangierten Teppich Ausschau halten.
Nach einem Umweg über die Waschräume frühstückte ich gemeinsam mit den aufgeregten Mädchen und überlegte was ich tun könnte, um dem Rummel zu entfliehen. Mit halbem Ohr hörte ich zu, was die Anderen erzählten, doch ich beteiligte mich wie meist nicht an den Gesprächen.
Es ging ohnehin nur darum, wer wen besuchte. Wer, was mitbringen würde. Wie sehr sich alle freuten und was sie unternehmen wollten.
Ich war das einzige Mädchen, das gar keine Besucher bekam und wollte nicht weiter darüber nachdenken. Viele der Mädchen hier hatten Väter oder Geschwister, die sie liebten und die an jedem oder zumindest den meisten Besuchstagen kamen. Einige holten ihre Töchter sogar an den anderen Wochenenden zu sich nach Hause. Das war durchaus erlaubt, wenn die Väter gewährleisten konnten, dass sie sich am Wochenende um ihre Töchter kümmern konnten.
Die Väter hatten, nach dem Tod ihrer Frauen, bei Mädchen keine Wahl und durften ihre Töchter nicht bei sich aufwachsen lassen, selbst wenn sie es wollten. Alle namenlosen Mädchen kamen in ein UBH. Natürlich war die Schule hier nicht spezialisiert, wie es die normalen Schulen waren, sondern allgemein, um die Mädchen auf alle Eventualitäten vorzubereiten,
Schließlich wusste Niemand, was nach der Benennung auf uns wartete.
Die zukünftige Arbeitsstelle errechnete ein Computerprogramm. In regelmäßigen Tests, sobald wir 16 waren, wurden unsere Daten in einem speziellen Computer eingegeben und das Programm errechnete unsere Bestimmung oder Berufung. Diese wurde uns dann im Amt mitgeteilt. Mal brauchte der Computer länger, um eine Bestimmung für einen Namenlosen zu finden, mal ging es schneller.
Oder es war wie bei mir und es passierte einfach nie.

Ich aß schnell auf, brachte meine leere Schale auf den Wagen für dreckiges Geschirr, warf bei der Gelegenheit mit Getöse den Eimer mit Besteck um, sammelte mit hochrotem Kopf alles wieder auf und verließ den Speisesaal, ohne mich noch einmal umzusehen.
Ich beschleunigte meine Schritte, um dem Rummel und dem Geräuschpegel zu entkommen.
Mein Weg führte mich in die Bibliothek und ich hoffte inständig, dass der Computer heute starten würde. Mein Wunsch wurde nicht erfüllt und so verkroch ich mich in einer Ecke der Bibliothek mit meinen gemütlichsten Lieblingskissen und las den ganzen Tag. Nach dem ersten, zugegeben langweiligen, zeitgenössischen Roman, suchte ich blinzelnd nach einem weiteren Buch. Ich entschied mich letztendlich für ein Buch, das ich schon einige Male gelesen hatte und trotzdem noch gerne las.
Eigentlich war es eher eine Kindergeschichte, aber ich mochte die mutige und freche Hauptfigur. Vielleicht lag es daran, dass ich mich ihr verbunden fühlte, selbst wenn unsere einzige Gemeinsamkeit darin lag, dass wir uns unbändige rote Locken teilten.
Das Mittagessen ließ ich ausfallen und ging mit knurrendem Magen erst zum Abendessen in den Speisesaal. Vor dem Abendessen mussten die Familien sich glücklicherweise verabschieden und das UBH verlassen.
Unglaublicherweise hatte ich es geschafft und heute niemanden sehen müssen. Ich hatte die Bibliothek den ganzen Tag für mich gehabt.

Im Speisesaal war es laut. Die Mädchen waren furchtbar aufgekratzt und redeten laut über die großen Tische miteinander. Ich suchte mir einen Platz am Rand, aß den Gemüseeintopf so schnell es ging und verließ den Raum, um ein paar Stunden im Garten zu arbeiten, so lange es noch hell war. Ich hoffte, davon müde zu werden, um abends besser einzuschlafen. Im Kräutergarten arbeitete Locke.
Ich murmelte ihr einen heiseren Gruß zu und fragte mich abwesend, wann ich das letzte Mal mit Jemandem gesprochen hatte.
Vermutlich bei meiner Fehlverhalten-Geschichte. Ich zuckte unwillig mit den Schultern.
Wer brauchte schon Gespräche?
Als es dunkel wurde, ging ich mich waschen, löste meine Zöpfe und kämmte sie ordentlich durch, bevor ich sie zu einem langen Zopf flocht, um schlafen zu gehen. Ich lag lange wach und driftete irgendwann unbemerkt in den Schlaf ab.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt