Untergehakt bei Unit, der in seinem schwarzen Smoking wieder überraschend gut aussah, betrat ich das riesige Haus.An der Tür stand ein blondgelockter Mann mit einem Tablett, auf dem in hochstieligen Gläsern prickelnde Getränke angeboten wurden.„Gibt es etwas ohne Alkohol?", fragte ich leise. Der gutaussehende Bedienstete reichte mir eines der Gläser und lächelte freundlich meinem Dekolletee zu.„Danke."Obwohl ich mich nach längerem Hin und Her entschlossen hatten noch einmal mit Unit auszugehen, obwohl ich ihn ja offensichtlich nicht hatte küssen wollen und meiner peinlichen Aktion, wollte ich heute keinen Alkohol trinken. Beim letzten Mal war zwar der Alkohol nicht an meinem Sturz schuld gewesen, aber ich wollte es nicht darauf anlegen.Unit griff sich eines der Gläser mit alkoholischem Inhalt und an seiner Seite schritt ich in den großen Saal.Bella hatte mir ein salbeigrünes bodenlanges Kleid geschneidert. Es war wunderschön, aber ich hatte mich bis zu unserer Ankunft hier unpassend gekleidet gefühlt. Hier wurde klar, dass ich absolut passend gekleidet war. Mein Kleid war sogar eines der schlichtesten im Saal.Ich hatte gedacht, dass nur zu solchen Bällen, wie beim letzten Mal diese Ballkleider getragen wurden, aber da hatte ich mich geirrt.In den recht tiefen Ausschnitt meines Kleides hatte Bella wieder irgendwelche Zaubersachen eingenäht, die meine Brüste so vorteilhaft betonten, dass ich selbst immer wieder bewundernd hinsehen musste.Deshalb konnte ich auch dem Mann mit den Getränken, Unit und den anderen Gästen kaum einen Vorwurf machen, wenn ihre Blicke dort hängenblieben.Meine roten Locken rahmten das Dekolletee zusätzlich vorteilhaft ein. Beim Blick in den Spiegel hatte ich mich kaum wiedererkannt.Selbst meine unsäglichen Sommersprossen unterstrichen wie durch Zauberhand den sanften goldenen Schimmer meiner Haut, die noch von der Gartenarbeit herrührte.Das zweite Mal in meinem Leben fühlte ich mich schön. Ich genoss sogar die Aufmerksamkeit, die ich bekam.„Zusammenstellen bitte!", forderte ein Mann.Er schoss sofort mit seiner professionellen Kamera Bilder, als Unit den Arm um mich legte.„Und lächeln! ... Danke."Ich befreite mich mit einem Schritt zur Seite sanft aus Units Arm, wobei mein Fuß fast umknickte.Warum nur hatte ich diese unbequemen Schuhe an, wenn das Kleid bodenlang war und ohnehin Niemand die Schuhe sah?Naja. Ich wusste schon warum. Weil Bella darauf bestanden hatte. Die Schuhe mit den hohen Absätzen hatte ich abwehren können, aber sie hatte mir kategorisch verboten meine alten Stiefel anzuziehen, die ich sonst bei jeder Gelegenheit trug.Sie hatte mir glücklicherweise zwei Paar Schuhe zur Auswahl mitgebracht.Das alles hatte ein kleines Vermögen gekostet, aber mein Konto hatte es problemlos mitgemacht, als ich Bella das Geld überwiesen hatte. Einer der Vorteile meines beeindruckenden Gehalts.In diesem Moment erreichten Unit und ich seine Eltern und drei weitere gutgekleidete Menschen.Unit gab seiner Mutter und der Frau einen angedeuteten Kuss auf die Wange. Seinem Vater und den beiden Männern nickte er zu, was diese erwiderten.Ich sah mich sofort fünf prüfenden Augenpaaren ausgesetzt, von denen zumindest drei eindeutig bewundernd waren.„Das ist also die berühmte ..."‚Ping, ping, ping, ping.'Ein Mann mit zurückweichendem Haar, das an seinem Kopf festgeklatscht war, stand auf einer Erhöhung vorne im Saal und bat mit dem Messerklopfen an seinem erhobenen Glas um Ruhe, die er fast augenblicklich bekam.„Willkommen", rief er, großspurig die Arme ausgebreitet und lächelte übertrieben. „Ich freue mich, dass ihr so zahlreich zu dieser ersten Veranstaltung in diesem beeindruckenden Saal erschienen seid. Vor allem freue ich mich über euer Interesse an diesem so wichtigen Thema."Ich wusste nicht, was dieses so wichtige Thema war, hörte aber etwas aufmerksamer zu.„Wir alle wissen, wie wichtig es ist, dass Mann und Frau zusammenkommen." Er machte eine dramatische Pause, in der ich die Stirn runzelte und mich umsah.„Und nicht Frau und Frau oder Mann und Mann!", rief er mit ausladenden Bewegungen.Zustimmung wurde aus dem Publikum laut.Mir blieb der Mund offenstehen.Ich war auf einer dieser Anti- Homosexualität- Veranstaltungen, die momentan immer wieder im Gespräch waren, weil sie zunehmend populärer wurden. In den Zeitungen wurde häufig von diesen Veranstaltungen berichtet.„Ich möchte euch zu Beginn eine Geschichte erzählen. Also hört gut zu!", forderte der Redner und das Gemurmel erstarb.Der Mann hatte ein beeindruckendes Talent eine Menge zu fesseln. Alle Blicke waren nach vorn auf ihn gerichtet.„Eine junge Frau – nennen wir sie Naivität – war mit ihrem Leben zufrieden. Sie war vernünftig, freundlich und arbeitete gern, aber obwohl sie viele Menschen kannte und sich mit vielen gut verstand, war sie einsam. Irgendwie passte sie nicht so richtig dazu."Er ließ seinen Blick wandern und vermittelte dabei das Gefühl, jeden persönlich anzusprechen.„Da tauchte eine neue junge Frau auf – nennen sie wir doch Verführung – und suchte Kontakt zu Naivität. Die Beiden verbrachten viel Zeit miteinander und freundeten sich an."Meine Gedanken wanderten zu Black und unserer Freundschaft. Dahin, dass ich sie immer noch nicht wieder gesehen hatte. Der Blick des Mannes schien mich direkt zu fixieren, als er weitersprach:„Naivität machte ihrem Namen alle Ehre und bemerkte nicht, dass die häufigen Berührungen und das Händehalten mehr war als nur Freundschaft. Denn Verführung war auf etwas ganz anderes aus. Auch sie zeigte sich ihrem Namen würdig und verführte Naivität. Verführung zeigte ihr Dinge, von denen sie nichts geahnt hatte. Eine Welt voller neuer, spannender Erfahrungen."Zeigte ihr, dass sie nicht einsam sein musste.Dass es Dinge und Menschen gab, für die es sich zu kämpfen lohnte.Die das Leben lebenswert machten.Zeigte ihr, dass sie nicht allein war.Möglicherweise sollte ich mich Naivität nennen.„Dinge, die einem anständigen Menschen die Schamesröte ins Gesicht treiben! Verführung hielt zunächst nur tröstend Naivitäts Hand. Aus einem freundschaftlichen Tätscheln wurde bald eine minutenlange Berührung. Aus einigen wenigen Momenten wurde Gewohnheit. Verführung und Naivität führten bald eine körperliche Beziehung und hatten keinen Sinn mehr für irgendjemand anderen als sich selbst."Meine Beziehung zu Black erschien in einem ganz neuen Licht.Wie sie meine Hand gehalten und meinen Arm gestreichelt hatte.Der Saal hing an den Lippen des Redners.„Später dann fragte sich Naivitäts Mutter, wann sie endlich Enkel erwarten durfte. Sie sprach mit ihrer Tochter, stellte ihr einen Mann vor, der perfekt für sie wäre."Eine gutgesetzte Pause steigerte die fast fiebrige Aufregung im Saal.„Doch Naivität war so verblendet durch Verführung. Sie blieb bei ihr und bekam keine Kinder! Naivitäts Mutter – nennen wir sie doch das System – blieb kinderlos!"Ein Raunen und Nachluftschnappen lief durch den Raum. Der Redner ließ seine Wort nachwirken und ließ der Empörung Zeit sich auszubreiten.„Wollen wir, dass das System ohne Kinder bleibt?", rief er laut und auffordernd.Vereinzelte „Nein"s kamen auf.„Können wir akzeptieren, dass uns und dem System Kinder verwehrt werden, weil Menschen unnatürliche gleichgeschlechtliche Beziehungen führen?!"„Nein!", hallte es lauter durch den Raum.„Dürfen wir Menschen, wie Verführung, unsere Kinder auf den falschen Weg führen lassen?!"„NEIN!", rief die Menge.Nach der Rede wollte ich gehen. Ich hatte keinen Grund hier zu sein und wollte diese Veranstaltung nicht unterstützen.Ich selbst hatte als Namenlose bis vor Kurzem einer ungeliebten Minderheit angehört, obwohl ich darauf gar keinen Einfluss gehabt hatte. Außerdem hatte ich bisher keine homosexuellen Paare oder allgemein offene Homosexuelle kennengelernt und selbst wenn ich es hätte, dann konnte ich nicht glauben, dass sie anders waren als Heterosexuelle. Diese dämliche Begründung, dass dem System Kinder verwehrt würden, kam mir vorgeschoben vor.Erst vor Kurzem hatte ich mit Chip über einen Zeitungsartikel gesprochen, in dem berichtet wurde, dass die Geburtenraten so hoch waren wie nie. Es war sogar davon die Rede, dass es zu einer Platznot kommen könnte, wenn die Entwicklung so weitergehen würde. Der Autor plädierte sogar dafür, in Zukunft eine Geburtenbegrenzung einzuführen.In diesem Moment unterbrach ein Gong meine Gedanken.Ein Gong, der zum Essen rief. Ein Gong!Viel abgehobener ging es wohl nicht. Unit griff nach meinem Arm und hakte mich unter. Noch vollkommen in meinen Gedanken versunken, ließ ich mich mitziehen. An dem pompös eingedeckten, runden Tisch fand ich mich zwischen Unit und seinem Vater wieder. Das Essen wurde aufgetragen, noch als ich die aufwendige Dekoration betrachtete und überlegte, wie ich am elegantesten und unauffälligsten verschwinden konnte.Ich würde die Vorspeise essen und mich dann verabschieden. Ich könnte Unwohlsein vorschieben.„Welche Absichten verfolgst du mit meinem Sohn?", ertönte die Stimme von Units Mutter zu mir, woraufhin die Gespräche am Tisch verstummten und sich alle Augen auf mich richteten.Der Bissen blieb mir beinahe im Hals stecken, während ich das Kauen so lange ausdehnte, wie ich nur konnte. Möglicherweise würde die Frage einfach vergessen werden, wenn ich nicht antwortete.Geduldig wurde auf meine Antwort gewartet.„Ich ... ähm ...", stammelte ich und sah hilfesuchend zu Unit.„Nun ...", sagte Unit.„Also schaffst du es wieder nicht eine Frau bei dir zu halten?", sagte Units Mutter mit Blick zu ihrem Mann. „Das kennen wir ja schon." Sie verzog abfällig den Mund.Unit runzelte die Stirn und sah seine Mutter böse an.„Mutter!"„Selbst eine von denen kannst du nicht halten", sagte sie mit gerümpfter Nase und nahm einen zierlichen Bissen von ihrer Gabel.Das dazu, dass ich mit meiner Benennung dieselben Rechte und dieselbe Stellung haben würde, wie alle anderen.„Eva", sagte Units Vater sanft tadelnd, wobei er nicht so aussah, als würde er es so meinen. Die zweite Frau und die beiden Männer sahen dem Gespräch zu, wie bei einem Tennismatch. Ich machte den Mund auf und wurde sofort von Unit unterbrochen.„Mutter. Hör auf, dich in meine Beziehungen einzumischen!", forderte er.„Auch ohne meine Einmischung hast du es bisher ja gut geschafft die bisherigen Frauen zu vergraulen", sagte sie leise murmelnd, in genau der Tonlage, dass alle sie hören konnten. Unit sah mir grimmig in die Augen. Ich erwiderte seinen Blick. Er schien etwas zu fragen und ich nickte, in der Annahme, dass er mich fragte, ob wir gehen.Er stand auf und zog mich mit sich hoch.Dann griff er nach seinem Glas und erhob es.„Wir hatten eigentlich vor noch zu warten, bevor wir es erzählen. Da du aber so charmant darauf pochst, also jetzt." Er blickte in die Runde, rückte seine Brille zurecht und sah seiner Mutter fest in die Augen.Meine Gedanken rasten und ich fragte mich, worauf er hinaus wollte.„Gestern erst habe ich die große Frage gestellt. Ich darf euch also meine Verlobte vorstellen. Wir haben beschlossen nächstes Jahr im Frühjahr zu heiraten!", sagte er feierlich. Herausfordernd sah er seine Mutter an, drehte sich zu mir und beugte sich vor. Endlich schienen mein Gehirn wieder zu funktionieren und ich drehte den Kopf zur Seite, sodass ich Units Kuss auf meine Wange umlenkte.Units Mutter sah mich prüfend an.„Es scheint nicht so, als habe deine Verlobte etwas davon gewusst", meinte sie hämisch. „Und wieder einmal bist du nichts, als eine Enttäuschung!"Units Schultern sackten herunter, als er zu mir blickte und die Ablehnung in meinem Blick sah. Doch ich kniff die Augen zusammen und sah der Frau in die Augen, die diejenige sein sollte, die ihren Sohn ohne Einschränkung und bedingungslos lieben sollte. Eine Mutter sollte hinter ihrem Sohn stehen!Ich griff nach Units Hand und verschränkte meine Finger mit seinen. Ich lächelte zu ihm hoch und bemühte mich um einen verträumten Blick. Dabei dachte ich an Ilan und mein Lächeln wurde weniger gezwungen. Unit erwiderte meinen Blick dankbar.„Ich möchte gehen, Unit", sagte ich und sah dann seiner Mutter fest in die Augen. „Ich habe nicht das Gefühl hier erwünscht zu sein. Und so etwas solltest du dir nicht anhören müssen. Vor allem nicht von deiner Mutter!" Ihre Augen verengten sich.Doch ich zog Unit an der Hand mit mir aus dem großen Saal heraus. Er ließ es sich ohne Gegenwehr gefallen.Vor der Tür ließ ich Units Hand los und genoss einen kurzen Moment lang die kühle Luft auf meiner Haut.Dann drehte ich mich zu meinem Chef um und schlug ihn kräftig vor die Brust, was ihn einen überraschten Schritt nach hinten stolpern ließ.„Hey!", beschwerte er sich, tonlos und schob seine Brille mit dieser nervösen Geste die Nase hoch. „Es ... es tut mir leid", schob er hinterher.Auffordernd hob ich das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Blick blieb kurz an meinen Brüsten hängen, bevor er mir wieder in die Augen sah. Ich runzelte die Stirn.„Meine Mutter ..." Ich sah seinen Adamsapfel hüpfen, als er schluckte. „Sie hält mich für einen Versager. Sie glaubt, dass ich niemals eine Frau für mich gewinnen könnte, damit sie endlich ihre so sehnlichst erwünschten Enkel bekommt." Das schoss er so schnell und leise heraus, dass ich ihn kaum verstand. Sein Blick ging mittlerweile irgendwo über meinem Kopf in den dunklen Himmel. Er kratzte sich am Kopf, während ich ihn musterte.Seltsamerweise war ich nicht wirklich wütend. Ich hatte eher Mitleid mit Unit. Mitleid, weil er so eine furchtbare Mutter hatte. Irgendwie war das ein seltsames Gefühl. Mein Leben lang hatte ich gedacht, dass eine Mutter zu haben das wunderbarste auf der Welt sein müsste. Jetzt fragte ich mich, ob das wirklich so war. Ich hatte das Bild einer Mutter – wie alle vermutlich alle Namenlosen – glorifiziert. Keine von uns hatte eine Idee von einer Mutter gehabt und so waren unsere Fantasien immer genau so gewesen, wie wir sie gebraucht hatten.Dass eine reale Mutter möglicherweise nicht immer das war, was man brauchte, war ein Gedanke, den ich in einem ruhigen Moment erstmal verarbeiten müsste.„Du würdest ein gutes Leben haben als meine Frau. Ich würde gut für dich sorgen. Du müsstest dir um nichts Gedanken machen ...", sagte er in meine Gedanken hinein. Ich schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.„Nein!", sagte ich fest. „Ich möchte jetzt nach Hause."
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Die Einsamkeit der Namenlosen
FantasyBei der Geburt eines Kindes gibt die Mutter diesem einen Namen. Im System hat die Mutter keinen Einfluss auf den Namen, doch sie weissagt damit das zukünftige Leben des Kindes. Kinder, deren Mütter bei der Geburt sterben, bleiben namenlos und wachse...