12. Welches Durcheinander Gefühle verursachen können

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Seine Stimme hörte sich ähnlich rau an, wie sich seine Hand angefühlt hatte. Und durch meine erste Faszination drang zeitverzögert zu mir durch, was er da gesagt hatte.
Ich erstarrte. Quasselstrippe schloss die Tür hinter mir und stellte sich wieder neben Ilan. Sie lächelte mich verlegen an.
„Hier im Haus hat Jeder einen Namen", sagte sie.
Angst durchschoss mich.
„Mein Haus, meine Regeln", brummte Ilan.
Seine Stimme vibrierte in der Luft und ich spürte sie bis tief in meinem Bauch.
Dort schien sie den kalten Knoten der Angst etwas aufzuwärmen.
Ilan stand ruhig wie ein Baum und wartete auf meine Reaktion.
Quasselstrippes graue Augen bohrten sich in meine.
„Ich heiße Black", sagte sie und unwillkürlich wanderte mein Blick zu ihrer glänzend schwarzen Haarpracht.
Black war zwar nicht der kreativste Name, aber vermutlich besser als Quasselstrippe.
Auch Red war nicht allzu kreativ, aber es war ein Name.
Mein Name.
Red.
Unwillkürlich musste ich an Grin, ihren Namen für mich und an den stinkenden dunklen Kellerraum denken.
Augenblicklich realisierte ich die Enge des Flurs.
Die geschlossene Haustür hinter mir schien näher zu rücken.
Die Geschwister vor mir versperrten den Weg in den Wohnraum und waren wie eine Wand.
Ich hatte zu wenig Raum.
Die steinernen Seitenwände des Flurs waren zu nah.
Mein Herz schlug schnell.
Mein Atem ging hektisch und gleichzeitig bekam ich nicht genug Luft in meine Lunge.
Ich wich einen Schritt zurück. Obwohl das ungleiche Geschwisterpaar nur ruhig abwartend vor mir stand, hatte ich das Gefühl, sie rückten näher zu mir.
Ich brauchte Platz! Luft! Ich würde ersticken!
Die Türklinke drückte sich in meinen Rücken.
Mit einem erleichterten Zischen entwich die Luft meinem Mund.
Die Klinke!
Ich tastete mit zitternden Fingern blind hinter mir und ergriff sie erleichtert.
Einen ganz kurzen Moment kam mir der Gedanke, dass die beiden selbst die Namen vergeben hatten und, dass sie deshalb mit Sicherheit Niemandem davon erzählen würden.
Schließlich würden sie sich damit selbst strafbar machen.
Doch die irrationale Panik, die mich in engen Räumen ergriff, hatte mich schon fest im Griff.
Ich schwankte, würde stürzen.
Doch Quasselstrippe – nein, Black – machte einen Schritt auf mich zu. Ein Geräusch wie von einem gequälten Tier klang durch den Raum.
Erst als ich schon panisch aus der Tür gestürzt war, realisierte ich, dass das Geräusch von mir gekommen war.

Vor mir auf dem Tisch stand eine Schale Haferbrei und ein Tee. Ruth hatte mir besonders viele Früchte in meine Schale getan. Vermutlich hatte sie Mitleid mit mir, weil heute Montag und es damit wieder Zeit fürs Amt war.
Obwohl mir mein Abgang vor den Geschwistern unglaublich peinlich war, war das restliche Wochenende erstaunlich uninteressant verlaufen.
Ich hatte die Gedanken daran recht gut verdrängen können. Mir war noch nicht klar, wie ich mit Black umgehen sollte, wenn sie wieder hier war. Ich hoffte, dass sich das in der Situation ergeben würde.
Black war noch nicht hier. Vermutlich war sie noch nicht aufgestanden. Sie musste gestern Abend zurückgekommen sein, aber ich hatte sie noch nicht gesehen.
Ich war schon früh aufgewacht und hatte mich fertig gemacht und saß nun in dem fast leeren Frühstücksraum.

Eigentlich hatte ich sogar die immerpräsenten Gedanken an das Amt und meine drohende Ausweisung gut verdrängt, doch heute war das nicht mehr möglich. Dieses Mal würde das vorletzte Mal sein, dass ich zum Amt ging. Nächstes Mal würde ich ausgewiesen werden. Ich hatte keine besonders großen Hoffnungen, dass man mich aufrufen würde. Warum sollte es jetzt einfach so passieren, nachdem ich schon seit fast 4 Jahren darauf wartete.
Hoffentlich würde Black nicht aufgerufen werden.
Ich ließ fast den Löffel in die Schüssel fallen, als mir klar wurde, was ich da gedacht hatte.
Natürlich hoffte ich, dass Black aufgerufen würde!
Oder?

Black war seit ewigen Zeiten die erste Freundin, die ich hatte. Außerdem machte ich mir keine Illusionen.
Auch sie würde mich ignorieren, wenn sie aufgerufen würde und ich nicht.
Ich würde nicht zu ihr und Ilan nach Hause kommen können.
Ich würde ihn vermutlich nie wieder sehen.
Nie wieder seine Stimme hören.
Nie wieder dieses Flattern spüren, diese Wärme ...
Ich fühlte mich leer und einsam. Ich schob meine ebenfalls leere Schale von mir.
Ich wünschte mir wirklich, dass Black nicht aufgerufen werden würde. Damit ich noch einmal zu ihr nach Hause gehen konnte und ihren Bruder wiedersehen.
Die Sache mit den Namen war mir egal.
Eigentlich hatte ich gar keine Angst vor der Namenssache. Schließlich vergab ich in Gedanken immer noch Namen für alle um mich herum.
Ich hatte nur Angst vor dem Keller.
Ich hatte mich vor dem engen Raum gefürchtet und die Situation hatte mich überrumpelt und ich war panisch geworden.
War ich ein schlechter Mensch, weil ich mir wünschte, dass Black noch etwas bei mir blieb?
Nein. Deshalb war ich nicht schlecht.
Das Schlimme war, dass ich mir wünschte, dass sie nicht aufgerufen werden würde.
Wie konnte ich so etwas denken?
Es war der größte Wunsch von allen Mädchen hier bestimmt zu werden und wir alle wünschten einander, dass dieser in Erfüllung gehen würde.
Nur ich saß hier und wünschte meiner Freundin das genaue Gegenteil.
Mein Körper fühlte sich taub an.
Ich war furchtbar.

„Guten Morgen!", hörte ich Blacks fröhliche Stimme hinter mir und schuldbewusst zuckte ich zusammen, obwohl sie gar nicht wissen konnte, was ich gedacht hatte.
Black. Ihren Namen hatte ich schon wie selbstverständlich übernommen.
„Komm schon. Die Anderen sind schon losgegangen! Wir müssen uns beeilen."
Sie wusste nicht, dass ich immer so knapp wie möglich losging. Doch ich stand pflichtbewusst auf und räumte mein Geschirr weg. Dieses Mal schaffte ich es mir, als ich den letzten Schluck Tee trinken wollte, diesen in meinen Ausschnitt zu schütten. Ich verdrehte die Augen und überlegte, ob ich etwas Anderes anziehen sollte.
Dann zuckte ich mit den Schultern. Sie würden mich auch nicht mit einem trockenen Kleid aufrufen. Außerdem würde es vermutlich auf dem Weg trocknen.
Ich lächelte Black möglichst freundlich zu und fühlte mich wie eine Verräterin.

Auf dem Fußweg zum Amt bemerkte ich wie aufgeregt und fröhlich Black wirkte. Sie wünschte sich, aufgerufen zu werden.
Scheinbar dachte sie gar nicht an meine Panikattacke am Wochenende. Vielleicht war es gar nicht so schlimm gewesen?
Ach..., was machte ich mir vor. Ich war aus Angst vor einem engen Raum und ein paar Namen weggelaufen. Sie hielt mich vermutlich für einen Angsthasen. Bestenfalls...
Vielleicht wollte sie das Ganze ignorieren. Aus Angst davor, dass ich die Beiden verraten würde.
Sie wusste nicht, dass ich das niemals tun würde.
Ich würde niemals jemanden dem ausliefern, was ich erlebt hatte.
Und ich konnte mir nicht vorstellen, was mit einem Bestimmten passierte, der gegen die Benennungsregel verstieß. Möglicherweise würde er ausgestoßen werden?
So wie ich, wenn ich nicht bald aufgerufen werde.
Nein. Ich würde jetzt aufhören darüber nachzudenken. Nach der heutigen Tortur würde ich mit Black sprechen und die Situation erklären.
Oder wer weiß, vielleicht würde es sich von selbst regeln. Ich würde es einfach auf mich zukommen lassen.
Ich schüttelte den Kopf. Ich musste aufhören mir Sorgen zu machen. Irgendwer hatte doch mal gesagt, dass man mit positiven Gedanken sein eigenes Denken ändern könnte.
Black würde aufgerufen werden und ich würde mich für sie freuen. Sie würde mich nicht ignorieren und ich ... ich würde nicht ...
Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte.
Vielleicht blieb ich lieber dabei.

Schneller als gedacht, scannten wir unsere Codes ein, wie Gemüse im Supermarkt.
Wir setzten uns in den Warteraum und grüßten die anderen Wartenden.
Die Frau in ihrem Kostüm betrat den Raum. Sie hob nicht den Blick, während sie ihre Liste vorlas. Ich glaubte, mein Kopf würde gleich explodieren, so fest versuchte ich, daran zu glauben, dass Black aufgerufen und ich mich freuen würde.
Die Frau verließ den Raum wieder und ich sah mich verwirrt um. Ich hatte ihr überhaupt nicht zugehört! Was hatte sie gesagt? War Black aufgerufen worden?
Und ... ich?
Ich sah Black an. Sie zuckte die Achseln und schien enttäuscht zu sein.
„Was soll es. Ich bin froh, dass wir wenigstens Beide nicht aufgerufen wurden. Dann können wir mehr Zeit miteinander verbringen." Sie versuchte, schief zu lächeln.
Ich spürte, dass sich ein strahlendes Lächeln über mein Gesicht auszubreiten begann und bemühte mich, es etwas zu dämpfen. Doch ich fürchte, dass mir das nicht so richtig gelang.
„Du kannst deine Gefühle wirklich nicht besonders gut verstecken.", stellte Black fest, doch sie lächelte dabei.
„Entschuldige.", brachte ich hervor. „Ich freue mich nur ... dass wir zusammen bleiben."
Darüber musste dann Black breit lächeln und sie griff nach meiner Hand, als wir gemeinsam aus dem Raum gingen. Auf dem Weg zurück ins UBH brannte ihre Hand in meiner, doch ich ließ nicht los.
Ich war zu froh darüber, dass Black nicht sauer auf mich war. Da würde ich ihr nicht verwehren meine Hand zu halten.
Erst auf dem Rückweg bemerkte ich, dass es in meinem Magen brodelte. Zuerst hatte ich dieses Gefühl nicht bemerkt, weil es unter der Erleichterung, dass Black nicht aufgerufen wurde, verborgen gewesen war. Doch jetzt spürte ich es.
Ich war wütend!
Schon wieder war ich nicht aufgerufen worden!
Wenn ich wenigstens irgendeinen Einfluss darauf hätte!
Ich fühlte mich machtlos und unwohl.
Ich hatte nichts, aber auch gar nichts getan, um das zu verdienen.
Vielleicht wurde es Zeit, dass ich etwas tat?
Aber was? Ich hatte keine Ahnung, was ich tun könnte, doch vielleicht wurde es Zeit etwas an der Situation zu ändern.
Ich atmete tief durch und beschloss mich zu informieren, ob es einen Fall wie meinen schon einmal gegeben hatte.
Vielleicht würde ich etwas in einem der Bücher über das System finden? Und ich könnte noch einmal mit Henrietta sprechen.

Black ging in ihren Unterricht und ich ging, nachdem ich meinen Mantel und Schuhe aus- und meine Hausschuhe angezogen hatte, zu Henrietta.
Sie nickte mir zu und sagte:
„Wir gehen dieses Mal zu den Großen. Die kennen die Geschichte zwar zu Genüge, aber es schadet nicht, sie noch einmal zu erinnern. Ich habe das Gefühl, sie werden nachlässig und vergessen sich möglicherweise."
Sie runzelte die Stirn und ich nickte.
Sie ging voraus, strich sich ihren Dutt glatt, klopfte an einer der Türen und ich trat hinter ihr ein.
Ich stellte mich an meinen Platz vorne im Zimmer und ließ den Blick über die Anwesenden schweifen.
Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich sah, dass Black an einem Tisch am Fenster saß.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt