2. Teil - 21. Lachen reinigt die Gedanken

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Mit dem Ellenbogen drückte ich die Klinke herunter und schob die Tür mit der Hüfte auf. Ich betrat das vollgestellte, rechteckige Büro.An dem großen langen Tisch saßen meine Kollegen. Allesamt Männer.Auf dem Tisch herrschte ein Chaos, bei dem Henrietta ihre schönste Schimpftirade losgelassen hätte.Zwischen mehreren Rechnern, in verschiedenen Stadien des Auseinandergebautseins, lagen Werkzeuge und Papiere, standen Tassen und leere Teller.Ich steuerte zielstrebig auf Chip zu, der sich problemlos den Platz meines Lieblingskollegen erarbeitet hatte.Er arbeitete konzentriert an dem Rechner, an dem wir seit gestern bastelten.Ich stellte den Teller mit Keksen vor ihn, die ich gestern gebacken hatte.Mit gerunzelter Stirn sah er auf, irritiert durch die Störung.Das Stirnrunzeln verschwand sofort, als er mich erkannte und dann lächelte er verschmitzt, als er die Kekse bemerkte.„Mit Schokolade?", fragte er mit großen Augen.„Aber natürlich. Für dich nur das Beste", antwortete ich lächelnd. Geld zu verdienen hatte den Vorteil, dass man selbst solche unglaublichen Luxusprodukte kaufen konnte. Schokolade hatte ich als ein Luxus erwiesen, den ich zu schätzen wusste.Chip nahm sich einen der Kekse, biss genüsslich ab und verdrehte genießerisch die Augen.„Perfekt, wie immer", behauptete er.Ich sammelte das Geschirr und den Müll ein, der um unseren Arbeitsplatz stand. Ich hatte es gern ordentlich, damit ich mich nur auf die Arbeit konzentrieren konnte.„Hier kannst du direkt weitermachen", ertönte Zedes penetrante Stimme vom anderen Ende des Tisches zu mir herüber. Ich stand in dem Moment mit dem Rücken zu ihm.Chip runzelte die Stirn und seine grüngrauen Augen waren wütend zusammengekniffen. Ich schüttelte leicht den Kopf und er blieb sitzen.Lächelnd drehte ich mich zu Zede um.Ich ging zu ihm herüber, beugte mich schräg über ihn und nahm mir ein halbleeres Glas mit einer abgestandenen Flüssigkeit, die möglicherweise, hoffentlich, einmal Wasser gewesen war.Zedes Blick hing sofort im Ausschnitt meines Kleides. Ich beugte mich etwas vor und ungeschickterweise fiel mir das Glas aus der Hand. Es landete so ungeschickt, dass Zedes Hose ungünstigerweise im Schritt komplett nass wurde.„Oh nein! Das tut mir ja so leid. Ich bin einfach so ungeschickt. Das musst du nächstes Mal wohl selbst machen", sagte ich mit aufgerissenen Augen und drehte mich lächelnd zu Chip um.Mein Herz klopfte vor Aufregung, aber es war nicht das erste Mal, dass ich mich gegen ihn behaupten musste.Hoffentlich würde ihm das eine Lehre sein.Ich räumte schnell das Geschirr von meinem Arbeitsplatz weg, hörte mir mit einem Ohr Zedes Gezeter an und sah nicht nur einen amüsierten Blick, den meine Kollegen austauschten.Zede rauschte zur Toilette und Chip hielt mir die Hand zum High Five hin. Er lachte so herzhaft, dass ich nicht anders konnte als mitzulachen.Floppy und Mikro stimmten mit ein.Von dem Gelächter angelockt, öffnete sich die Tür am Ende des Raumes.Heraus kam unser Chef, Unit. Blinzelnd bemühte er sich seine Augen scharf zu stellen und sah zu mir.Unser Gelächter verstummte.Er lächelte mich freundlich an und rückte seine Hornbrille zurecht.„Schön, dass hier so eine lockere Atmosphäre herrscht. Wenn alle dabei ihre Arbeit erledigen, ist das eine schöne Sache. Lachen reinigt die Gedanken. Also frisch ans Werk", sagte Unit auf seine typische, hochtrabende Art.Chip verdrehte, mir zugewandt die Augen. Ich grinste ihm zu und Unit lächelte mir wohlwollend zu. Er hatte mein Grinsen wohl auf sich bezogen.Chip und ich machten uns also an die Arbeit.Zede lief den Rest des Tages mit einem gelblichen Fleck im Schritt herum. Ich musste zugeben, dass ich noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen hatte.Es war schon beinahe dunkel, als ich mit meinem nicht mehr sichtbaren Code auf dem Handgelenk die Tür zu dem großen Hochhaus öffnete.Ich ging durch die Halle und meine braunen Stiefel sandten ein lautes Klacken durch den Raum.Mit einem der Aufzüge fuhr ich hinauf und öffnete dort die Tür zu der Wohnung.Meiner Wohnung.Es fühlte sich immer noch nicht wie meine Wohnung an, allerdings verbrachte ich auch so wenig Zeit hier, wie ich konnte.Ich trat in den weißen Flur, schloss die Tür mit dem Fuß hinter mir und zog meine Stiefel aus.Ich ließ sie auf das weiße Schuhregal im Flur fallen. Damit waren die Stiefel die einzigen Schuhe, die dort standen. Das war aber auch nicht verwunderlich, da ich keine anderen hatte.Auf Socken ging ich ins Badezimmer und stellte das Wasser an, damit die Badewanne einlaufen konnte. Die Badewanne! Unglaublich.Ich ließ ein nach verschiedenen Kräutern duftendes Öl einlaufen und ging in das riesige, weiße Schlafzimmer, um mir dort mein Nachthemd zu holen.Alles in dem weißen Schrank war – wer hätte es gedacht – weiß.Wer auch immer meine Wohnung eingerichtet hatte, hatte wirklich ein Faible für Weiß.Das Nachthemd knüllte ich zusammen und warf es durch die halbgeöffnete Tür ins Bad. Das Badezimmer hatte eine direkte Tür zum Schlafzimmer, sehr praktisch.Von dem riesigen Bett raffte ich die kuschelige Decke zusammen und brachte sie in den Flur.Jemand putzte an mehreren Tagen in der Woche in der Wohnung, wenn ich arbeiten war. Die Putzfrau oder der Putzmann räumte die Decke jedes Mal wieder ins Schlafzimmer zurück.In einem zweiten Gang brachte ich die beiden Kissen in den Flur und baute dort schon einmal mein improvisiertes Bett.In der ersten Nacht hatte ich versucht, in dem Schlafzimmer zu schlafen, aber der Raum war mir zu groß.Es war seltsam. Ich bekam Platzangst in engen Räumen, aber das Schlafzimmer war zu groß gewesen.Seitdem schlief ich im Flur. Dieser war in etwa so groß, wie es mein Zimmer im UBH gewesen war.Außerdem hatte ich so alle Türen im Blick und niemand konnte in die Wohnung kommen, ohne dass ich es bemerken würde.Mit einem Blick ins Badezimmer, der mir zeigte, dass die Badewanne halbvoll war, ging ich in die große Wohnküche – natürlich in komplett weiß – und schmierte mir schnell ein Käsebrot, das ich im Stehen aß.Der Teller mit dem Käsebrot stand vor mir und mir wurde schwarz vor Augen vor Hunger. Mit einem Blick auf den Mann mit den weißen Schläfen und der Hornbrille griff ich mir das Brot und biss hinein. Es war das Beste, was ich je gegessen hatte! Es war himmlisch.Mit einem unwirschen Kopfschütteln verscheuchte ich die Erinnerung und ging ins Badezimmer.Ich zog mich aus, warf die Klamotten in die Ecke und ließ mich mit einem glücklichen Aufseufzen in die Wanne sinken.Meine neue Wohnung war viel größer als Ilans gesamtes Häuschen.Was er wohl gedacht hatte, als ich einfach weggelaufen war?Warum hatte er mich abgewiesen?Hatte er mich überhaupt abgewiesen?Oder hatte ich die Situation falsch gedeutet? Schließlich hatte ich, was das anging keinerlei Erfahrungen.Was dachte er jetzt über mich?Wie so oft in den letzten Wochen fanden meine Gedanken zu Ilan, sobald ich nichts mehr zu tun hatte, wenn ich in meiner Wohnung war.Ich blieb in der Wanne, bis das Wasser kalt und ich schrumpelig wurde. Ich schrubbte meinen Körper heftiger ab, als es nötig gewesen wäre.Mein Kleid war schon am vorherigen Tag schmutzig gewesen, doch heute war es auch noch komplett zerknickt.Außerdem stank ich. Ich bemühte mich, mich notdürftig mit dem Wasser in dem Waschbecken zu waschen, doch ohne Tücher und Seife war das ein schwieriges Unterfangen.Mit einem unwirschen Kopfschütteln verscheuchte ich die ungefragt aufkommenden Gedanken an meine glücklicherweise recht kurze Zeit im Gefängnis des Amtes.Mein Blick fiel auf mein nacktes Handgelenk.Der Code war verblasst und nur, wenn das Licht in einem bestimmten Winkel darauf fiel, war es zu sehen.Es war immer noch ungewohnt, dass der Code nicht mehr da war und das, obwohl ich ihn mein Leben lang verabscheut hatte.Ich wusch mein Haar und ging ins Schlafzimmer. Ich zog eines der im Schrank liegenden weißen Nachthemden an, das sich sanft an meinen Körper schmiegte. So etwas Schönes hatte ich früher nie getragen und es lag hier als Nachthemd bereit! Kein Wunder, dass uns die Bestimmten an der Kleidung als Unbestimmte erkannten.Ich ging in den Flur und legte mich in mein improvisiertes Bett.Wie so häufig lag ich lange wach und meine Gedanken taten, was sie wollten und nicht sollten.Unbarmherzig fanden sie ihren Weg zu Ilan.Zu dem Abend.Seine Hand in meinem Haar.Sein Blick auf meinen Lippen.Meine wirren Gefühle.Von da aus gab es zwei Szenarien, die immer und immer wieder vor meinem inneren Auge abliefen.Auf der einen Seite die Wirklichkeit.Seine Ablehnung.Meine verletzten Gefühle.Auf der anderen Seite gab es den Wunschtraum.Seine Lippen, die meine streiften.Seine Hand, die mich näher zu sich zog.Meine Hände an seiner Brust.Seine Lippen, die mich sanft und dann immer verlangender küssten.Letzte Nacht war ich mit diesen Bildern eingeschlafen, was zu angenehmen Träumen führte, aber dafür zu einem Schock am Morgen. Aufzuwachen und zu realisieren, dass alles nur ein Traum war, war furchtbar gewesen.Heute musste ich mich unbedingt von diesen Gedanken fernhalten. Sie ignorieren. Sie gar nicht erst denken!Doch das war schwierig.So schwierig.Ich hatte mich mittlerweile so oft gefragt, was er wohl in diesem Moment tat und wie er über mich dachte, dass ich schon von mir selbst genervt war.Ich brauchte unbedingt eine Ablenkung!Ich konnte Schritte aus der Wohnung über mir hören.Immer noch irritierten mich die fremden, ungewohnten Geräusche.Bald schlief ich ein, beruhigt wenigstens die Wände so nah an mir zu wissen, wie in meinem alten Zimmer.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt