Ich hatte nicht darüber nachgedacht, dass Black auch hier sein würde. Sie kannte meine Geschichte noch nicht. Aber ... Meine Gedanken rasten, genau wie mein Herz. Vielleicht war das gut. Sie würde möglicherweise verstehen, woher meine Angst kam und meine Reaktion nachvollziehen können.
„Namenlose." Henrietta wandte sich jetzt an die Mädchen. „Ihr kennt die Geschichte von G-769 schon." Ihr Blick fiel auf Black.„Nun fast alle kennen ihre Geschichte. Ihr sollt daran erinnert werden, was ein Verstoß gegen die Regeln bedeutet. Auch, wenn ihr möglicherweise sehr bald benannt werdet, ist es von äußerster Wichtigkeit, dass ihr euch an die Regeln haltet! Namen werden vom System vergeben und nur vom System!" Ihre Worte waren jedes Mal ungefähr die Gleichen. Genau wie meine. Sie nickte mir auffordernd zu und ich trat vor .Ich sah Black direkt an. Heute würde ich ihr meine Geschichte erzählen. Vielleicht würde sie dann verstehen.
„K-812 war meine beste Freundin. Wir haben von klein auf alles gemeinsam gemacht, gespielt, gestritten, alles geteilt. Wir haben auch gemeinsam die Regeln gelernt. Eine der wichtigsten Regeln war die, dass wir kein Recht auf einen Namen haben, bis uns einer vom System gegeben wird." Blacks graue Augen waren weit aufgerissen und bohrten sich in meine. Locke und die anderen Mädchen traten komplett in den Hintergrund. „Mit sechs oder sieben haben wir ein Spiel erfunden. Wir haben die Regel nicht ernst genommen. Wir dachten nicht, dass Jemand je etwas mitbekommen würde und wir fanden es harmlos und lustig. Wir haben uns gegenseitig Namen gegeben." Black keuchte auf. „Und nicht nur uns gegenseitig. Wir haben jedem Mädchen hier einen Namen gegeben. Das ging einige Zeit lang gut. Bis wir eines Tages dabei erwischt wurden. Wir wurden angemessen bestraft." Das waren natürlich Henriettas Worte und nicht meine. Nichts an der Strafe war angemessen. „K-812 und ich wurden jede für sich allein in einem dunklen Kellerraum festgesetzt, um unser Fehlverhalten zu überdenken. Der Raum war klein und ich hatte keinerlei Gefühl dafür, wie viel Zeit vergangen." Blacks Augen waren voller Mitleid. Sie saß leicht vorgebeugt, um mir besser zuhören zu können. Henrietta würde zufrieden mit ihrer Reaktion sein. „Henrietta kam regelmäßig zu mir, um mit mir über die Regeln zu sprechen und mir klar zu machen, wie fatal ein solches Verhalten ist. Die restliche Zeit über war ich dort allein und vollkommen verängstigt. Doch es hat mir geholfen zu verstehen, dass die Regeln eingehalten werden müssen. Mir wurde mit Henriettas Hilfe schnell klar, was für einen Fehler ich gemacht hatte. Namen dürfen nur vom System vergeben werden. Niemand sonst darf dieses Privileg missbrauchen." Meine Stimme war zum Ende wieder monotoner geworden, als ich Henriettas Vorgaben herunterbetete. Schnell gab ich meinem Gesicht den angemessen schuldbewussten Ausdruck, damit Henrietta zufrieden sein würde. Black hatte verstanden, was ich ihr erzählt hatte. Henrietta war zufrieden. Nach ein paar Fragen durfte ich gehen. Ich fragte Henrietta draußen, ob sie irgendwas wüsste, was mir bei der Frage der Ausweisung weiterhelfen könnte. Doch sie wies mich mit harschen Worten ab und behauptete, nichts für mich tun zu können.
Ich schluckte meine Wut herunter und ging in die Bibliothek, um mich methodisch durch alle möglicherweise in Frage kommenden Bücher durchzuarbeiten. Bücher über das System und die Bestimmung. Über die Unbestimmten, die Namenlosen, über die es nicht viel zu lesen gab. Über Rechte der Bürger, über alles, was ich finden konnte. Ich klammerte mich an jeden Strohhalm. Ich nutzte dafür die Zeit, in der Black beim Unterricht war. Einen Teil dieser Zeit verbrachte ich aber auch im Garten. Vor allem dann, wenn ich das Gefühl hatte, dass dieses eiskalte Gefühl der Wut sich sonst einen Weg aus mir herausfressen würde. Ich bemerkte, dass Black sich bemühte, an mich heranzukommen, doch fühlte ich mich nicht im Stande mich vollkommen auf sie einzulassen. Ich zog mich immer weiter in mich zurück und suhlte mich in der Wut. Auf das System, auf mich selbst, auf alle und jeden.
„Was ist los mit dir?" Das hatte sie mich in dieser Woche schon oft gefragt.
„Nichts", antwortete ich einsilbig mit zusammengebissenen Zähnen, wie schon so häufig in dieser Woche.
„Das hast du schon so oft gesagt! Ich glaube dir nicht!", fuhr sie mich scharf und laut an. Ich zuckte zusammen.
„Du sagst die ganze Zeit, es ist nichts, aber du lügst! Du hast etwas. Seit dem Amt bist du seltsam! Liegt es daran, dass du nicht aufgerufen wurdest? Ist doch egal! Du wurdest so lange nicht aufgerufen, einmal mehr macht den Kohl auch nicht mehr fett!" Sie schlug die Hände vor den Mund, als sie merkte, was sie gesagt hatte. Wir saßen im Garten auf einer Bank im Halbschatten unter einem der alten Apfelbäume. Ich runzelte die Stirn. Von ihrem Standpunkt aus gesehen, hatte sie recht. Doch sie wusste nichts von meiner drohenden Ausweisung. Kurz hatte ich das Bedürfnis ihr davon zu erzählen. Doch ich wollte kein Mitleid. Ich wollte es allein schaffen oder ich würde die Konsequenzen tragen müssen. Auf keinen Fall würde ich Jemanden da hinein ziehen. Henrietta hatte mir gesagt, dass ich Niemandem davon erzählen durfte und ich würde mich daran halten. Wer weiß, was passieren würde, wenn ich sie mit hineinziehen würde. Vielleicht würde man auch Black ausweisen. Das konnte ich auf keinen Fall riskieren. Ich atmete tief durch. So ging es aber nicht weiter. Ich würde es mir mit Black verscherzen. Ich musste ihr etwas anbieten und hoffen, dass sie mir glaubte.
„Ich ...", ich räusperte mich und sah auf den ausgefransten Saum meines dunkelblauen Kleides.„Oder liegt es an dem, was am Wochenende passiert ist?", unterbrach sie mich leise. Unwillkürlich sah ich mich um. Wir waren allein. Mein Herz pochte schnell und heftig. Es war fast Essenszeit und die meisten Mädchen waren schon reingegangen. Nur wir saßen noch hier.
„Ich verstehe, warum du weggelaufen bis. Du warst panisch wegen dem, was dir und diesem Mädchen ..."
Ich hob meine Hand, um sie zu unterbrechen.
Sie verstummte und sah sich aufmerksam um. Ich war nicht sicher, wo der richtige Ort war, um über so ein Thema zu sprechen. Ich wusste bis heute nicht, wo damals Jemand Grin und mich belauscht hatte. Aber ich hatte mir oft Gedanken darüber gemacht. Hier war nicht der schlechteste Ort. Wir konnten weit um uns herum sehen, wenn Jemand auf uns zukam. Die Bank stand zwischen den Obstbäumen, die nur spärlich unterpflanzt waren.
„Ich glaube, dass uns hier Niemand belauschen kann, ohne, dass wir es mitbekommen", sagte Black leise und sah mich beruhigend an. Ich nickte. „Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie es damals für dich in diesem Keller gewesen sein muss", flüsterte sie. Ihre schiefergrauen Augen waren groß und mitleidig. Augen, die mich an Ilan erinnerten und meine Brust schnürte sich zusammen. Obwohl ich ihn nur einmal gesehen hatte, dachte ich sofort an seinen durchdringenden Blick. „Ich verstehe, dass du Angst hast Namen zu nutzen. Ich hoffe aber, dass du es für dich behältst." Sie sah mich eindringlich an.
Jetzt war ich es, die sie mit großen Augen ansah. Ich räusperte mich. „Darum geht es nicht", sagte ich langsam und Black beobachtete mich aufmerksam. „Natürlich bin ich etwas vorbelastet, was Namen angeht. Aber deshalb bin ich nicht weggelaufen." Ich holte tief Luft. „Ich bekomme Panik in kleinen geschlossenen Räumen."
„Aber der Flur ist doch nicht geschlossen", meinte sie unsicher. Ich knetete meine Hände und sah überall hin, nur nicht in ihre Augen. Ich war mit Sicherheit tomatenrot angelaufen. „Aber ihr habt dort vor mir gestanden und das kam anscheinend aufs Gleiche heraus. Ich kam nicht weg."
Sie schwieg und schien nachzudenken. „Du bist doch oft im Hühnerstall. Der ist auch klein und geschlossen."
Ich seufzte. „Ich verstehe das auch nicht genau. Es passiert ja nicht bewusst. Ich weiß ja, dass es sinnlos ist Angst zu haben, aber es ist halt trotzdem so. Ich glaube es liegt vor allem an Steinwänden, wie im Keller. Oder gemauerten Wänden oder was auch immer. Holz scheint mir nichts auszumachen." Meine Stimme war zum Ende hin immer leiser geworden. In letzter Zeit war mir nicht zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass meine Angst nicht nur mit dem Keller zu tun hatte.
„Also hatte es nichts mit ... mit den Namen zu tun?", fragte sie, noch immer unsicher.
„Ein bisschen vielleicht, aber nicht so wirklich." Was hatte ich auch schon zu verlieren. Selbst, wenn ich erwischt werden würde, konnte mir nichts Schlimmeres passieren, als mir ohnehin schon drohte. Ich holte noch einmal tief Luft und sah mich schnell um. „Black und Red sind zwar nicht die kreativsten Namen, aber sie passen auf jeden Fall gut zusammen." Ich lächelte meinem ausgefransten Kleidersaum zu.
Black sagte nichts und ich schielte schräg zu ihr hin und sah sie strahlend lächeln. Sie umarmte mich überschwänglich von der Seite und ihr Kopf lag an meiner Schulter. Sie war so klein, dass ihr Kopf so gerade auf meine Schulter reichte.
„Ich bin so froh, dass du das sagst." Ihre Hand verschränkte sich mit meiner.„Willst du heute den Film sehen?", fragte ich, um Black abzulenken. Sie strahlte mich an und nickte.
„Oh ja. Das ist eine gute Idee! Das wird uns ablenken! Wir können auch überlegen, was wir morgen machen wollen. Wir können ja nicht zu Ilan. Sonntag ist Besuchstag. Dann kommt er her.", feuerte sie auf mich los. Wir standen auf. Ich ließ in einer unauffälligen Bewegung ihre Hand los und wir gingen zum Haus. Ich nickte. Sie machte Pläne und ich stimmte zu, dass wir gemeinsam Handarbeiten machen würden. Sie wollte mir unbedingt beibringen, wie ich ein einfaches Muster sticken könnte und war sich sicher, dass ich es morgen schaffen würde, eines meiner Kleider zu verzieren. Sie hatte ja keine Ahnung, wie grauenhaft ich dabei war. Am Samstag saßen wir also wirklich in dem hellen Handarbeitsraum am Fenster, in dem sich einige Mädchen versammelt hatten. Black hatte beschlossen, dass wir gemeinsam den Saum eines Kleides besticken würden. So konnte sie mir, während sie selbst stickte, zeigen wie es ging. Ich hatte mich für verschiedene Grüntöne entschieden und den ersten Faden eingefädelt. Ich atmete tief durch und machte konzentriert den ersten Stich. Nach einigen weiteren Stichen hatte ich eine lose Schlaufe, die irgendwie entstanden war und nicht verschwand, zwei Knoten und ein erbärmliches Rankenmuster produziert. Frustriert sah ich von meiner Arbeit auf und sah, dass Black mich mit großen Augen ansah. Sie begann schallend zu lachen und ich wurde rot. Einige der Mädchen sahen auf und lachte mit, als sie meine Nähkünste sahen.
„Das erklärt, warum deine Kleider so ... schlicht sind.", brachte Black irgendwann hervor. Sie hatte vor Lachen Schluckauf bekommen und kicherte immer noch.
„Komm, ich zeige dir, wie es geht."
Unter ihrer Anleitung begann ich noch einmal neu. Etwa eine Stunde lang gab sich Black redlich Mühe mir beizubringen, wie ich mein Kleid verschönern könnte. Sie hatte mir ein möglichst einfaches Muster gezeigt und wir hatten es mit Kreide auf den Ausschnitt aufgemalt. Außerdem hatte sie mir empfohlen, mit unauffälligeren Farben zu sticken und mir ein etwas dunkleres Grau, als das des Kleides gegeben. Das Problem war, dass ich einfach grobmotorisch veranlagt war. Mit der Zeit wurde es aber etwas besser. Es klingelte zum Mittagessen, als ich ein immerhin handlanges Stück geschafft hatte. Es sah gar nicht mal so schlecht aus.
Blacks mindestens doppelt so lange Stickerei war zwar wesentlich feiner und akkurater, aber von Weitem fiel der Unterschied kaum auf. Auch den Rest des Tages stickten wir. Irgendwann sangen wir, während der Handarbeiten mit den anderen Mädchen im Raum ein Lied und daran schloss sich ein weiteres an. Dabei stellte ich fest, dass Black keinerlei Rhythmusgefühl besaß und das entweder nicht wusste oder es ignorierte, doch es machte mir nichts aus. Die Anderen hatten aufgeregt über das anstehende Gründungsfest geredet. Dieses fand jedes Jahr am siebten Tag des siebten Monats statt. Alle Bürger des Systems hatten an diesem Tag frei und feierten die Gründung unseres Landes. Die Feier wurde in den Tagen und Wochen davor schon vorbereitet. Da der Tag dieses Jahr auf einen Montag fiel und dieser wiederum der erste Montag des Monats war, würde dadurch der Benennungstag eine Woche nach hinten verschoben werden. Dadurch konnte ich eine zusätzliche Woche gewinnen, bevor ...Doch darüber würde ich jetzt nicht nachdenken. Ich genoss den Rest des Tages und schlief abends überraschend entspannt ein.
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Die Einsamkeit der Namenlosen
FantasíaBei der Geburt eines Kindes gibt die Mutter diesem einen Namen. Im System hat die Mutter keinen Einfluss auf den Namen, doch sie weissagt damit das zukünftige Leben des Kindes. Kinder, deren Mütter bei der Geburt sterben, bleiben namenlos und wachse...