1. Prolog

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„Ich bitte um eure Aufmerksamkeit", sagte die Frau.
Es war totenstill in dem kleinen Warteraum, in dem die Namenlosen auf den grauen Plastikstühlen saßen. Sie spürte ihre Augen auf sich, räusperte sich nervös und warf einen Blick auf ihre Liste auf dem Klemmbrett in ihrer Hand.

Die hübsche Namenlose mit der roten Lockenmähne war da, wie immer. Sie fiel ihr – wahrscheinlich wegen der auffälligen Haare und dem bohrenden Blick – sofort ins Auge. Außerdem war sie die Älteste hier. Die Rothaarige war vermutlich G-769 und damit letzten Monat 20 geworden. Alle hier im Amt redeten über sie. Das hatte es noch nie gegeben. Namenlose wurden irgendwann in ihrem 17. oder spätestens 18. Lebensjahr benannt und zugewiesen.
Sie räusperte sich noch einmal vernehmlich und sah auf die Buchstaben und Nummern auf ihrem Klemmbrett.

„B-389 in Raum 1." Eine zierliche Blondine stand auf, lächelte glücklich und hastete in das ihr zugewiesene Zimmer.
Der Blick von G-769 schien sich durch sie zu brennen und sie spürte, dass sie nervös von einem Fuß auf den anderen trat, was sie sofort zu unterdrücken suchte. Sie hatte ihre Professionalität zu wahren.

„F-417 in Raum 2." Die Amtsfrau Karina hörte ihre Stimme klar und laut durch den Raum klingen. Kein Zittern in der Stimme. Gut. Das wäre nur wieder ein gefundenes Fressen für Karola, die ihr immer vorbetete, dass Professionalität alles sei.
Der stechende Blick der Rothaarigen lag in diesem Moment auf einer zierlichen Schwarzhaarigen mit großen grauen Augen, die ihre Enttäuschung zu verstecken versuchte. Karina zupfte an ihrem schwarzen Kostüm und bemühte sich, die Rothaarige und ihre Blicke auszublenden, während ein dickliches Mädchen mit rotem Kopf den Raum verließ.
Sie musste schlucken, als ihr Blick auf die Liste fiel und sie sah, was dort als Nächstes stand.

„I-731 in Raum 3." Karina hörte das nervöse Zittern in ihrer Stimme und hoffte, dass es Niemandem aufgefallen war. G-769 stand wieder nicht auf der Liste. Es war ihre letzte Chance gewesen. Unter der Hand, sodass Karola es nicht mitbekam, hatte die Amtsfrau mit ihren Kollegen Wetten abgeschlossen, ob G-769 heute dabei sein würde oder nicht. Sie traute sich nicht, zur Rothaarigen zu sehen, behielt den Blick auf das Klemmbrett gerichtet und las schnell weiter.

„L-3 ..." Weiter kam sie nicht. G-769 stand wutentbrannt vor ihr. Sie war größer als die Frau in ihrem schicken Kostüm. Das war ihr nie aufgefallen, was nicht verwunderlich war, da die Rothaarige bisher immer gesessen hatte.

„Ihr glaubt doch wohl selber nicht, was ihr hier tut?!" Ihre Stimme war laut, klar und durchdringend. „Das ist doch nicht euer Ernst?!"
Karina sah sich hilfesuchend um. Die Namenlose mit den großen grauen Augen starrte erschrocken zu der Rothaarigen und sah fast aus, als wollte sie aufstehen. Doch sie tat es nicht und erstarrte, so wie alle Namenlosen im Raum, außer der tobenden Furie, die die zitternde Amtsfrau mit ihren ausholenden anklagenden Bewegungen in Richtung Tür drängte.
Die rothaarige Namenlose schimpfte wortreich über die Ungerechtigkeit des Systems und die lange Zeit, die sie schon wartete. Die Amtsfrau konnte sie zwar durchaus verstehen, aber sie hatte keinen Einfluss auf die Benennungen, der Computer bestimmte die Namenlosen.
Und dieser war das nächste Ziel der aufgebrachten G-769.
„Das System hat keine Ahnung, was es tut!" Ihre Stimme überschlug sich fast. Karina kramte unauffällig in ihrer Tasche und versuchte den Notknopf zu erreichen. Erleichtert fand sie den Knopf wenig später und drückte ihn direkt mehrfach.
„... Ein Computer-Programm! Ihr wisst doch alle nicht, was es macht", behauptete die rothaarige Furie jetzt. Die Amtsfrau sah nervös aus dem Raum und sah mit Erleichterung die Sicherheitsleute kommen. Die Rothaarige kam den Themen zu nah, die hier Niemand gern hörte. Es wurde Zeit, dass sie gestoppt wurde.
Die anderen Namenlosen versuchten sich, möglichst unsichtbar zu machen und taten so, als würde nichts sein. Wahrscheinlich war das eine gute Idee.
„Wenn ihr schon gewusst habt, dass ich wieder nicht aufgerufen werde, wieso bin ich dann hier? Ihr hättet mich sofort rauswerfen können!", kreischte die Rothaarige.
Die Schwarzhaarige schlug eine Hand vor den Mund und sah jetzt richtig verängstigt aus.
Die rote Furie war in ihrer Wut beeindruckend, so viel musste Karina zugeben. Ihre Augen blitzten, die Haare schienen ihre Wut zu unterstreichen. Nur ihre niedlichen Sommersprossen dämpften die Wirkung etwas. Selbst ihr schäbiges graues Kleid tat der Sache keinen Abbruch.
Sie war angsteinflößend!
Sie fixierte die Frau in ihrem schwarzen Kostüm direkt und zeigte anklagend auf sie. Diese konnte ein Zucken nicht unterdrücken.
Da würde sie sich was von Karola anhören müssen.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt