3. Die Geschichte meines fatalen Fehlverhaltens

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„K-812 war meine beste Freundin, seit ich denken kann. Wir haben alles zusammen gemacht. Und wie wir alle haben wir von klein auf die Regeln gelernt. Vor allem wurde uns immer wieder gesagt, dass wir kein Recht auf einen Namen haben, bis das System uns einen gibt. Wir haben das nicht ernst genommen und mit sechs oder sieben haben wir dann ein kleines Spiel erfunden. Wir haben uns nichts dabei gedacht, fanden es harmlos. Es würde keiner mitbekommen und tatsächlich hat es recht lange Zeit Niemand bemerkt."
Ich hörte mich selbst monoton die Geschichte herunterbeten, die ich schon so oft erzählt hatte.
„Was habt ihr gespielt?", fragte Henrietta lauernd. Sie mochte es nicht, wenn ich nur erzählte, was passiert war. Ich sollte Gefühle vermitteln.
Obwohl die Mädchen die Geschichte schon kannten, sah ich einige die Luft anhalten.
„Damals kam es uns so harmlos vor. Wir dachten nicht, dass wir Jemandem damit schaden würden." Auch heute fand ich es harmlos, aber ich würde mich hüten das jemals laut auszusprechen. „Wir haben uns gegenseitig Namen gegeben und nicht nur uns gegenseitig. Wir hatten Namen für alle hier im UBH."
Die Mädchen keuchten auf. Henrietta sah zufrieden aus und nickte zustimmend über diese passende Reaktion.
„Was passierte, als ihr ertappt wurdet?", fragte Henrietta und musterte mich streng.
Wir wurden erniedrigt und gequält, dachte ich.
„Wir wurden angemessen bestraft", sagte ich und schauderte bei dem Gedanken an den finsteren Kellerraum, in dem ich allein eingesperrt gewesen war, ohne eine Toilette, ohne ein Licht. Wenn in einem kleinen dunklen Raum die Tür hinter mir geschlossen wurde, roch ich noch heute sofort den bestialischen Gestank, der nach mehreren Wochen, in dem Raum geherrscht hatte. Ich roch wieder, wie ich selbst gestunken hatte.
„Ich wurde allein in einem angemessenen Raum festgesetzt, einem dunklen Kellerraum." Das waren natürlich nicht meine Worte, sondern die, die Henrietta mir vorgegeben hatte. Schon vor Jahren hatte sie mir diese Floskel eingetrichtert. Aber ich hatte sie mittlerweile so oft gesagt, dass es genauso gut meine Worte sein könnten.
„Ich habe kein Gefühl dafür gehabt, wie lange ich dort eingesperrt war, aber ich hatte schreckliche Angst. Henrietta kam regelmäßig zu mir und sprach mit mir über die Regeln und sorgte dafür, dass ich sie verstand."
Eine Zehnjährige in einem Kellerraum einzusperren, wo sie vor Angst schrie und weinte, kam mir auch heute nicht wie eine angemessene Bestrafung vor. Aber wenigstens in einem Punkt waren Henrietta und ich uns einig. Ich wollte die Mädchen davor bewahren selbst im Keller zu landen
Ihre großen ängstlichen Augen fixierten mich.
„Ich hatte viel Zeit über meine Fehler nachzudenken, weil ich allein dort unten war und nichts sonst tun konnte. Mit Henriettas Hilfe wurde mir schnell klar, was für einen furchtbaren Fehler ich gemacht hatte."
Mein Fehler war gewesen mit Jemandem über die Namen zu sprechen, die ich den Anderen gegeben hatte. Denn ich hatte diese schon, seit ich denken konnte, vergeben.
Die Zahlen und Buchstaben waren immer so steif und umständlich gewesen. Echte Namen waren einfacher. Ich hatte nie verstanden, warum wir keine haben dürfen. Das war nicht gerecht, doch ich kannte die Regeln und Gesetze und würde den Fehler nicht wiederholen und Jemandem diese Namen verraten.
Doch damals hatte ich, meiner besten Freundin K-812 – die ich schon immer in Gedanken Grin genannt hatte – verraten, dass ich einen Namen für sie hatte. Daraufhin hatte sie mir einen Namen gegeben. Ich muss zugeben, dass wir nicht besonders kreativ waren. Die meisten Namen beruhten auf Charaktereigenschaften oder Äußerlichkeiten. Dadurch, dass wir von klein auf englisch lernten, waren die Namen eine bunte Sprachmischung geworden.
„Wie denkst du heute über deinen Fehler?", fragte Henrietta in meine Gedanken hinein. Meine Güte es waren nur Spitznamen! Wie sollte ich schon darüber denken? Es war harmlos!
H-482 – Hibbel – machte ihrem Namen alle Ehre und zuckte nervös mit dem Fuß, während sie mit großen Augen auf meine Antwort wartete.
„Es war der größte Fehler, den ich je gemacht habe." Ich blickte zu Boden und mimte Betroffenheit und schlechtes Gewissen, was Henrietta mit einem schmalen Lächeln bedachte. „Namen dürfen nur vom System vergeben werden. Niemand darf dieses Privileg missbrauchen."
Ich legte genau so viel Schuldbewusstsein in meine Stimme, dass man es hörte, aber nicht übertrieben wirkte.
Ich wusste meine Rolle zu spielen.
D-229 – Happy – lächelte versonnen und war in ihren eigenen Gedanken versunken. Ihr Blick war verträumt ins Leere gerichtet und offensichtlich hörte sie nicht zu. Hoffentlich würde Henrietta sie dabei nicht erwischen.
Selbst ich hörte mir nicht mehr zu, als ich weiterredete.
Henrietta stellte einige Fragen, ich antwortete. Es war wie immer, das ewig Gleiche.
Trotzdem spürte ich wieder die alte Angst in meinem Magen, wenn ich über den Keller sprach und an die Zeit dort dachte. Nach der Bestrafung hatten Grin und ich nie wieder Namen genutzt. Ich weiß nicht, ob sie es, wie ich noch für sich getan hatte. Jedenfalls hatten wir nie darüber gesprochen. Nach ihrer echten Benennung hatte ich sie nur einmal auf der Straße gesehen, aber dass war ein anderen Thema an das ich nicht gern dachte.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt