Vidar – mein Vater – hatte mir versprochen am Sonntag mit Belle zu reden und ihr zu erzählen, dass ich da gewesen war und, dass er mich näher kennenlernen wollte.Ich wäre am Liebsten sofort vorbei gegangen, um auch die Situation mit Belle zu klären. Aber ich hatte zugestimmt.Bei unserem Abschied hatte er mich unsicher umarmt und ich hatte die Umarmung steif über mich ergehen lassen. Vermutlich brauchten wir beide noch etwas Übung in diesen Vater- Tochter- Sachen. Als er beim Winken ungeschickt eine Schüssel mit undefinierbarem Kleinkram umwarf, hatte ich unwillkürlich lächeln müssen. Es war irgendwie schön, zu sehen, dass ich meine Ungeschicklichkeit mit Jemandem teilte. Dass er sie mir vererbt hatte.Ich hatte mich entschieden, Belle am Montag von der Arbeit abzuholen und vielleicht in einem dieser Cafés oder im Park mit ihr zu reden und sie zu bitten zu erklären, warum sie mich angelogen hatte.Der Arbeitstag flog an mir vorbei. Als ich beim Essen meine Salatschüssel über Chips Schoß ausleerte und ich gerade dazu ansetzte die Blätter aus seinem Schoß zu picken, hatte er meine Handgelenke sanft aber bestimmt festgehalten und gesagt:„Das mache ich. Du setzt dich und tust für heute am besten gar nichts mehr."Warum auch immer, hatte mich das etwas heruntergebracht. Jedenfalls hatte er mich früher rausgescheucht und gesagt er würde sagen, dass es mir nicht gut gegangen sei, falls Unit fragen würde.Deshalb war ich früher als gedacht auf dem Weg zu Belles Arbeitsstelle. Sie hatte mir erzählt, wo der Laden war und so musste ich dieses Mal zumindest nicht suchen.Die Straße war noch feucht von den Regengüssen der letzten Tage, doch kam in diesem Moment die Sonne hinter den Wolken hervor und wärmte mich.Ich nahm das als gutes Zeichen.Vor dem eleganten Laden angekommen, der von einem großen Schaufenster mit schönen Kleidern dominiert wurde, hielt ich gar nicht erst an, sondern trat selbstbewusst ein, um nicht den Mut zu verlieren.„Guten Tag", sagte ich zu der geschmackvoll gekleideten Frau, die in diesem Moment einige Stoffballen sortierte. „Meine Schwester, Belle, arbeitet hier. Ich möchte nicht lange stören, aber ich müsste bitte mit ihr sprechen."Die Frau musterte mich kritisch, aber freundlich, ließ den Blick über mich wandern, über mein Kleid – heute jasminweiß – und nickte dann.„Sie hat von einer Schwester erzählt.", sie deutete hinter sich. „Die roten Locken sind wirklich beeindruckend", murmelte sie und ich griff unwillkürlich in meine, heute offen fallende, Lockenpracht. „Durch diese Tür dort und dann direkt links. Dort arbeitet sie mit der Neuen."„Vielen Dank." Ich steuerte auf die mir gewiesene Tür zu. Vor der zweiten Tür stoppte ich kurz und atmete tief durch. Hinter der Tür konnte ich zwei Stimmen hören und ich konnte nicht anders, als einen kurzen Moment zu lauschen.„– gedacht dabei." Das war Belles Stimme.„Unglaublich!", kam der Kommentar einer zweiten Stimme, die mir vage bekannt vorkam.„Nach dieser Aktion bin ich wirklich froh, dass ich dich kennengelernt habe. Nach dem Park hatte ich ja beinahe ein schlechtes Gewissen, aber nachdem sie Papa da mit reinzieht, habe ich keine Gewissensbisse mehr."Ich hatte die Hand schon auf der Klinke, doch ich erstarrte in der Bewegung.„Du hättest wirklich dabei sein müssen, als ich ihr gesagt habe, dass sie sich da in etwas reingesteigert hätte und dein Bruder Jemanden, wie sie nie hätte haben wollen. Du hättest ihr Gesicht sehen müssen. Ich konnte förmlich sehen, wie ihr Herz brach. Wie sie die Arme um sich geschlungen hat, als ob sie sich selbst zusammenhalten müsste. Wirklich erbärmlich." Belles Stimme war hart und wütend.Das Lachen, das auf ihre Worte folgte, erkannte ich sofort.Ich öffnete die Tür und trat in den Raum. Zwei erschrockene Gesichter wandten sich mir zu. Ein Paar brauner Augen sah mich schreckgeweitet an und ein Paar großer grauer Augen bohrte sich in meine.Meine Schwester und Black saßen jede an einem eigenen Tisch, vor einer Näharbeit.Ich schloss die Tür hinter mir.„Bevor ich gestern zu unserem Vater gegangen bin.", sagte ich mit Blick zu Belle. Dann sah ich auf Black und spürte einen schmerzhaften Stich. Doch es war nur ein Stich, kurz, schmerzvoll und dann wieder vorbei. „War ich im UBH, um dich zu suchen, Black. Aber Henrietta hat mich weggeschickt. Ich hätte nie erwartet, dich hier zu treffen."„Ich heiße Noir", sagte Black. Nicht besonders kreativ, aber es passte. Es war ihr Name, nur angepasst an die edle Welt der Mode, in der gern französische Namen vergeben wurden.Die dunkle und die blonde Schönheit sahen mich an. Sie wirkten fast wie komplette Gegensätze, wie sie vor mir an ihren Tischen saßen.„Ich wollte dich fragen, warum du mich angelogen hast", wandte ich mich direkt an Belle und sah ihr in die Augen. Bis sie es nicht mehr aushielt und den Blick abwandte. „Also. Warum?"Nach einem, gefühlt, ewig andauernden, unbehaglichen Schweigen, war es nicht Belle, die antwortete.„Weißt du überhaupt, wie sich deine Schwester aufgeopfert hat, um euren Vater zu pflegen und alles für ihn zu tun?!", verteidigte Black – oder wie auch immer sie jetzt hieß – ihre neu gewonnene Freundin und warf ihr schwarzes, glänzendes Haar über die Schulter. „Sie ist ihr Leben lang perfekt gewesen für ihn und trotzdem ging es andauernd um dich." Black sah Belle auffordernd an und versuchte, sie offensichtlich mit Blicken zum Reden zu bringen. Die Beiden schienen wohl ganz Dicke zu sein.„Jedenfalls hat sie so viel für ihn getan und nie etwas dafür bekommen.", machte sie etwas gebremst durch Belles Untätigkeit weiter. „Und dann stand dieser Artikel in der Zeitung. Dass du eine tolle Bestimmung bekommen hast und wie toll du bist." Auffordernd sah sie nochmal zu Belle.Die schien sich langsam etwas zu fangen und fügte tonlos hinzu:„Du hast auf dem Bild ausgesehen, wie Mama auf den alten Fotos."„Und warum hast du Vater nicht erzählt, dass du mich gefunden hast?", fragte ich.Belle sah mich unschlüssig an und suchte nach einer Antwort.„Weil du es nicht verdient hast!", rief Black dazwischen.Ich sah weiter Belle direkt an und blendete Black, so gut es ging, aus.„Und warum hast du mich angelogen, was das Geld anging? Warum hast du nicht gefragt, wenn du Geld brauchtest? Ich hätte es dir gegeben", fragte ich weiter. Belle sah mich ehrlich überrascht an. Leise sagte sie:„Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen. Und ... ich brauchte auch kein Geld. Es fühlte sich ... gut an es dir wegzunehmen."Ich verzog unglücklich das Gesicht.„Ich habe dir nichts getan. Alles, was du gesagt hast – oder eher, was sie gesagt hat.", ich nickte zu Black hin. „... ist nicht meine Schuld", sagte ich ihr direkt, nicht ohne ein flaues Gefühl im Magen. Belle schluckte und Black – oder Noir – griff Belles Hand und verschränkte ihre Finger mit denen meiner Schwester.Ich stand weiterhin etwas unbehaglich im Raum.Allerdings war ich froh stehen zu können. Damit hatte ich eine überlegenere Position.Doch das schien auch Black zu merken, sie ließ Belles Hand los, legte den Haufen gelben Stoffs, an dem sie genäht hatte auf den Tisch und stand auf. Ihr gut verarbeiteter, schwarzer Rock aus einem sichtbar wertigen Stoff war voller gelber Fädchen und Fusseln.„Wieso kommst du jetzt hierher? Ich bin schon seit über zwei Monaten bestimmt. Zur Schneiderin übrigens, falls du dich das gefragt haben solltest", sagte sie ätzend.„Und wieso bist du nicht zu mir gekommen? Offensichtlich habt ihr Beide ja über mich gesprochen", fragte ich zurück.Sie sah etwas verdattert aus. Ob wegen meiner Widerworte oder weil sie diesen offensichtlichen Schluss meinerseits nicht hatte kommen sehen.„Ist völlig egal.", behauptete Black – Noir. „Wie war übrigens das Date mit diesem Unit? Hat dir der Kuss gefallen? Seid ihr noch weitergegangen?" Sie hatte das Gesicht verzogen. Sie sah kaum noch aus wie sie selbst, eher wie eine verbitterte, wütende Fratze ihrer selbst.Ganz langsam kam die Erinnerung.Wie blitzartige Einblicke in den Abend des Dates. Wie Unit mich im Arm hielt, während ich versuchte, geradeaus zu gehen.Die Black- Frau, die um mich wirbelte.Der Ilan- Mann an ihrer Seite.Mein Herz setzte aus und für einen kurzen Moment blieb mir die Luft weg. Noir sah es und blickte zufrieden zu mir rauf. Sie hatte mich da getroffen, wo sie es gewollt hatte.Sie war dort gewesen, mit Ilan und die Beiden hatten gesehen, wie Unit mich geküsst hatte.Was hatte Ilan gedacht, als er mich mit ihm gesehen hatte?„Es hat so gut geklappt. Belle und ich haben vorher besprochen, wie sie dich am ehesten dazu bringt mit deinem Chef auszugehen." Black blickte zu Belle und grinste sie verschwörerisch an. Als keine Reaktion kam und meine Schwester auf ihren Schoß sah, redete sie weiter. „Wir dachten nicht, dass es so gut wird. Aber ich wollte Ilan dabei haben, damit er endlich mit dir abschließen kann. Als du aus dem Gebäude gewankt kamst, Arm in Arm mit diesem Schleimer, konnte ich mein Glück kaum fassen. Und dann der Kuss. Unglaublich!"Ihre Augen glänzten glücklich und es fehlte nur noch, dass sie die Fingerspitzen vor sich aneinander tippte und ‚Ha ha ha' rief. Dafür stemmte sie den einen Arm energisch in ihre Seite.Belle schien tiefer in ihren Stuhl zu sinken und ich bildete mir ein ihre Augen glänzen zu sehen. Doch die Noirs Ansprache ließ mich nahezu kalt. Das Einzige, was ich hörte, war: ... damit er endlich mit dir abschließen kann.„Damit er mit mir abschließen kann?", echote ich also dümmlich.Noir biss verärgert die Zähne zusammen. Sie hatte mehr verraten, als sie wollte.„Ja, genau", meinte sie dann bissig. „Mein dummer Bruder jammert dir hinterher. Er versucht, es zu verstecken, aber ich bin nicht blöd. Egal, was ich versucht habe, um ihn abzulenken." Sie mahlte mit den Zähnen. „Wenn ich nicht genug bin, dann kann er mich mal."Und plötzlich verstand ich es.Plötzlich war es so klar, wie nie.Es hatte sich immer wieder in Kleinigkeiten angedeutet, aber jetzt erst verstand ich wirklich.Noir hatte Ilan ihr Leben lang für sich gehabt. Deshalb reagierte sie auf potentielle Frauen für ihn mit Ablehnung und schlimmster Eifersucht.Es war so simpel und einfach. Noir war furchtbar eifersüchtig. Sie wollte ihren Bruder nicht teilen.Ich drehte mich zur Tür um.„Wo gehst du hin?", wollte Noir herrisch wissen. Ich antwortete nicht. „Wenn du zu Ilan gehen willst, dann entscheidest du dich gegen mich! Er oder ich! Überleg es dir gut. Ich werde keine Freundschaft mit dir mehr wollen, wenn du dich gegen mich entscheidest. ..."Ich machte den Schritt raus in den Flur und ließ die Tür hinter mir zufallen. Blacks – nein Noirs! – Stimme keifte noch weiter, doch es war mir egal, was sie sagte. Ich hatte genug gehört. Es war genug um sich einige Tage zu verkriechen und zu heulen.Doch darauf hatte ich keine Lust mehr.Ich würde aufhören mich zu verkriechen und unglücklich zu sein.Ich würde etwas tun, um glücklich sein zu können.Jetzt war nicht der Moment, um sich zu verkriechen.Einer Freundschaft hinterhertrauern und diese Verschwörung gegen mich verarbeiten, konnte ich immer noch später!
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Die Einsamkeit der Namenlosen
FantasiBei der Geburt eines Kindes gibt die Mutter diesem einen Namen. Im System hat die Mutter keinen Einfluss auf den Namen, doch sie weissagt damit das zukünftige Leben des Kindes. Kinder, deren Mütter bei der Geburt sterben, bleiben namenlos und wachse...