7. Wie man Menschen auf Abstand hält

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Henrietta stand während des Frühstücks auf und sah sich um, bis man im Raum die sprichwörtliche Stecknadel hätte fallen hören können.
Es kam selten vor, dass sie am Morgen etwas sagte, weshalb es schnell leise wurde.
„Wie einige von euch schon gestern mitbekommen haben, bekommen wir heute Zuwachs."
Überrascht sah ich auf.
Ich hatte nichts mitbekommen, allerdings war ich nur zum Frühstück im Speisesaal gewesen. Wenn wir Zuwachs bekamen, wenn also ein neues Baby zu uns kam, dessen Mutter gestorben war, dann kam dieses erstmal in den Teil des Hauses, wo die Kleinen betreut wurden. Wir hatten mit ihnen kaum etwas zu tun. Sie kamen erst, wenn sie fünf oder sechs waren in unseren Teil des UBHs.
„Das Mädchen hat vorher in einem anderen Bezirk gelebt und ist dort in das zuständige UBH gegangen. Da ihr Erziehungsberechtigter nun seine Berufung hier in der Stadt ausüben wird und sie schon 16 ist, wurde beschlossen, dass sie bis sie bestimmt wird, bei uns lebt. Ich hoffe, ihr werdet sie mit offenen Armen empfangen. Ich weiß, dass es schwierig sein wird, weil ihr schon so lange zusammen seid und sie neu dazukommt ...", sie sah über uns hinweg zur Tür und viele Köpfe drehten sich, um zu sehen, was sie dort sah. „Ah", sagte sie lächelnd, „Da ist sie schon. Komm her und stell dich vor", bat sie das soeben eingetretene Mädchen zu sich.
Nun drehte auch ich meinen Kopf und sah das schwarzhaarige Mädchen aus dem Amt in der Tür stehen. Sie ging an den Tischen vorbei zu Henrietta und stellte sich neben sie. Wieder trug sie ein einfaches Kleid, doch es saß perfekt und war mit schlichten, aber effektiven Details ausgestattet.
„Hallo. Ich bin D-281, ich hoffe, dass ich euch nicht lange nerven werde. Aber für die Zeit bis dahin freue ich mich, euch kennenzulernen", sagte sie lächelnd und selbstbewusst zu den ihr zugewandten Gesichtern. Viele lächelten oder lachten sogar, als sie hörten, dass sie schnell wieder hier wegwollte. Das ging Jeder so. Schließlich wollten alle ihre Bestimmung, so schnell wie möglich erhalten. Ihr Blick fiel auf mich und sie lächelte breiter. Sie sagte etwas zu Henrietta, was ich nicht verstand und kam direkt auf mich zu, um sich neben mich zu setzen.
„Hi, schön dich wieder zu sehen. Ich hatte gehofft, dass ich dich hier treffe", sagte sie und lächelte mich so ehrlich an, dass ich überrascht zurücklächeln musste. Gleichzeitig musste ich ein Augenrollen unterdrücken. Wo sollte ich auch sonst sein.
„Hallo", sagte ich einsilbig.
„Du glaubst nicht, wie aufgeregt ich bin hier zu sein. Mein Bruder und ich sind diese Woche erst hergezogen. Am Anfang der Woche musste ich direkt zum Amt, aber ich durfte noch beim Umzug helfen und dann war schon das Wochenende.Da bin ich immer bei ihm zu Hause und jetzt ist Montag und ich bin hier. Ich hoffe, dass ich einfach schon nächsten Monat aufgerufen werde, dann muss ich nicht lange hier sein. Aber ich hoffe, dass wir beide uns gut verstehen. Ich habe sofort gemerkt, dass die Chemie zwischen uns stimmt. Was soll das eigentlich heißen, dass die Chemie stimmt? Naja. Jedenfalls wusste ich, dass wir uns gut verstehen werden und ich hoffe, dass wir Freundinnen werden", brach es aus ihr hervor.
Entweder war sie aufgeregter, als sie bei ihrer kleinen Ansprache gewirkt hatte oder sie redete einfach viel. Während ihres Monologs hatte ich meinen Haferbrei aufgegessen.
„Ich bin etwas aufgeregt", gab sie zu. „Jedenfalls bin ich nicht hungrig, hast du Lust mir das Haus zu zeigen? Henrietta hat gesagt, dass du mir alles zeigen würdest. Du könntest mir alle Fragen beantworten."
Innerlich seufzte ich auf. Ich konnte mir Schöneres vorstellen, als den ganzen Tag mit einem aufgeregten Neuankömmling durch das Haus zu laufen und Fragen zu beantworten. Aber wenn ich ehrlich war, hatte ich nichts anderes zu tun.
Ich brachte meine Schale auf den Speisewagen, während ich sagte:
„Das hier ist der Speisesaal. Drei Mal am Tag gibt es Essen. Um acht, um eins und um sieben. Wir essen immer alle gemeinsam. Wenn du zu den Essenszeiten nicht auftauchst, gibt es nichts mehr. Wir haben eine Köchin, Ruth, die für uns kocht. Zwei von uns haben aber Küchendienst und helfen ihr. Die Dienste wechseln immer nach einer Woche. Dein Essen holst du dir an der Essensausgabe und dein Geschirr säuberst du grob und bringst es hier auf den Speisewagen."
Ich räumte meine Schale auf den Wagen und warf den Löffel etwas zu schwungvoll in den Eimer, der halbvoll mit Wasser war, damit die Speisereste auf dem Geschirr nicht eintrockneten. Einige Spritzer erwischten mich und mein Kleid bekam einige unschöne Flecken auf Brusthöhe ab. Ich seufzte, zum Glück war es nur Wasser, wenn auch nicht besonders sauberes.
Den Moment, in dem ich nicht sprach, nutzte D-281 sofort:
„Und wann habe ich Küchendienst? Mit wem habe ich Küchendienst? Ist Ruth nett? Kann ich mir aussuchen, wann ich welchen Dienst habe oder wird das zugeteilt? Welche Dienste gibt es noch? Wie sind denn die Betreuerinnen hier so? Unsere waren ganz nett, aber mehr auch nicht. Ich hoffe, sie sind nett. Bei uns gab es auch Dienste, ich habe das alles nie besonders gern gemacht, aber wenn Jemand dabei ist, mit dem man quatschen kann, geht es. Und ..." Sie verstummte und sah mich aus ihren großen grauen Augen an. „Entschuldige. Ich halte jetzt den Mund."
Sie war mir in der Zeit gefolgt und wir standen im Garten. Ich erzählte ihr Wissenswertes zu den Räumen, an denen wir vorbeikamen und einiges über den Tagesablauf hier im UBH. Sie blieb die meiste Zeit still und saugte alles in sich auf. Sie sah sich mit ihren großen Augen so begierig um, als könnte sie sonst etwas verpassen. Ich spürte förmlich wie sie vibrierte und wie schwierig es für sie war nicht zu reden. Also schwieg ich, um ihr die Gelegenheit zu geben, wieder zu sprechen. Dabei merkte ich, dass mein Hals unangenehm kratzte. Ich war es nicht gewöhnt, so viel am Stück zu reden.
Am Ende standen wir wieder vor dem Speisesaal und ich nickte ihr zum Abschied zu. „Bis dann", sagte ich unverbindlich.
„Was? Wohin gehst du? Was soll ich denn jetzt machen?", fragte sie mit ihren großen Puppenaugen flehend.
„Ich weiß nicht. Was du tun möchtest", antwortete ich.
„Unternimmst du nicht was mit mir? Ich würde mich freuen hier eine Freundin zu haben. Das wäre doch toll, wenn wir später erzählen könnten, dass wir uns an meinem ersten Tag am UBH kennengelernt haben." Sie strahlte mich freudig an.
„Nein", sagte ich und ging in Richtung Bibliothek. Ich drehte mich nicht mehr um und hatte auch kein schlechtes Gewissen dabei.
Sie kam mir nicht nach.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt