Ich saß am Frühstückstisch im UBH. Black war schon beim Unterricht und ich hing meinen Gedanken nach.Es waren nur noch wenige Tage, bis zu meinem letzten Benennungstag beim Amt.Ich hatte eine Woche dadurch gewonnen, dass das große Fest stattfinden würde.Eine Woche mehr zur Recherche.Wenn ich daran dachte, spürte ich eine seltsame Taubheit. Es war, als würde mein Körper sich weigern, ein klares Gefühl zu fühlen.Ich flüchtete mich in meine Recherchen.In der Bibliothek testete ich jeden Morgen zuerst den Computer, doch er ging weiterhin nicht an. Auch mein Trick half nicht mehr. Ich versuchte es an einem Tag jede Stunde einmal, doch nichts passierte.Die Bücher brachten immer weniger Ergebnisse. Nicht, dass sie überhaupt irgendetwas hervorgebracht hätten.Je weniger ich in der Bibliothek tun konnte, desto mehr Zeit verbrachte ich im Garten. Zum Glück war dort immer etwas zu tun.Schließlich war der Garten riesig, zumindest im Vergleich zu Ilans.Ich versuchte, jeden Gedanken an Ilan zu vergessen, an Blacks Reaktion und an die Schwester- Geschichte.Doch je mehr ich es versuchte, desto mehr dachte ich darüber nach.Immer wieder kamen meine Gedanken zurück zu der Angst, Black und auch Ilan nie mehr wieder zu sehen, wenn ich ausgewiesen werden würde.Die ganze Woche über war es schwül warm und der Garten bettelte um Regen, doch er wollte nicht kommen. Ab und zu nieselte es für ein paar Minuten, doch der ersehnte Regen stellte sich nicht ein.In den nächsten Tagen würde sich das Ganze in einem Gewitter entladen, das konnte man in der Luft spüren.Black benahm sich mir gegenüber normal, soweit ich das beurteilen konnte. Teilweise war sie aber distanziert.Ich war nicht sicher, ob das vielleicht nur an mir lag. Ich bemerkte selbst, wie wortkarg ich wieder geworden war und wie sehr ich mich in mich zurückzog.Immerhin hatte sie schon mit mir über das kommende Wochenende bei Ilan gesprochen und ich war froh, dass ich dieses Mal nicht im Dunkeln tappen musste.Am Samstag gingen wir, wie in den letzten Wochen, gemeinsam zu Ilans Häuschen. Black hatte sich bei mir untergehakt und plauderte entspannt und wie gewohnt.Die seltsame Stimmung war anscheinend wirklich von mir ausgegangen und ich bemühte mich mit der Kraft guter Gedanken fröhlich zu stimmen und zwang mich zum Lächeln, bis ich das Gefühl hatte, dass es nicht mehr nur gezwungen war.Das quietschende Gartentor begrüßte uns, genauso wie Ilan, der erst Black in eine brüderliche Umarmung zog und dann mich umarmte. Ich redete mir ein, dass die Umarmung anders gewesen war als die für seine Schwester.Als ich ihn im Flur hatte stehen sehen, hatte mein Herz einen kleinen Tanz aufgeführt und sich dann entschlossen einfach nur noch viel zu schnell in meiner Brust zu wummern.Ich ignorierte Blacks kritische Blicke.Wir hatten mittlerweile schon eine kleine Routine entwickelt. Zuerst backte ich mit Black und ging dann zu Ilan in den Garten, während Black dieses Mal allein das Abendessen kochte.Ich arbeitete mit ihm ohne Worte, aber im Einklang, in den Beeten.Einige der ausgesäten Samen hatten gekeimt und wir versuchten sie, so gut es ging vor den räuberischen Schnecken zu schützen.Wir streuten Holzspäne aus und sammelten jede Schnecke ein, die wir fanden.Ich weiß nicht genau, was Ilan später mit den Schnecken tat, ich jedenfalls sammelte sie nur in einem Eimer und glaubte fest daran, dass sie ein gutes und langes Leben haben würden. Irgendwo anders.Immer wieder spürte ich seine Blicke auf mir. Wenn ich ihn dann ansah, lächelte er leicht und sah weg.Das warme, bekannte Flattern in meiner Magengrube war gegen Abend kaum noch auszuhalten, als Black endlich zum Essen rief.Die Geschwister hatten beim Abendessen ein lockeres Gespräch in Gang gehalten und schienen sich nicht daran zu stören, dass ich nicht teilnahm.Ich war so verwirrt durch meine Gefühle und die seltsame Stimmung der letzten Woche zwischen Black und mir, dass ich lieber nichts sagte, um auch nichts falsch zu machen. Von Hölzchen auf Stöckchen waren die Beiden irgendwann bei Berufungen angekommen.„Ich glaube, du wirst Sekretärin werden und den ganzen Tag lang Briefe schreiben", sagte Ilan ernst und kassierte einen Schlag gegen den Oberarm von seiner Schwester.„Blödmann. Ich könnte niemals den ganzen Tag ruhig rumsitzen. Ich hoffe, es wird etwas mit Nähen oder mit Kochen werden. Oder vielleicht Backen", sagte Black, während sich Ilan dramatisch den Arm rieb.„Du wirst bestimmt tolle Kleider für gut verdienende Menschen nähen und dir einen guten Namen machen und mit deinen Kreationen die Modewelt beeinflussen", beruhigte Ilan sie ernst und sie strahlte ihn dankbar an.„Red wird bestimmt Gärtnerin, wie du."Ich sah auf, als ich meinen Namen hörte.Ilan lächelte mich warm an und sein Blick ließ mein Herz wieder aufgeregt klopfen.„Ich würde mich freuen, eine so fähige Kollegin zu bekommen", sagte er ruhig.So wie er es sagte, konnte ich mir schon fast vorstellen mit ihm Seite an Seite Gärten zu planen. Mit ihm zu diskutieren und am Ende in den schönsten Gärten zu stehen, Hand in Hand, von den Leuten gelobt und geliebt und füreinander ... Ich unterbrach meine Gedanken und schüttelte den Kopf.Ich würde ausgewiesen werden. Dann würde ich die Beiden überhaupt nicht wiedersehen. Niemanden, den ich kannte.Ich atmete tief durch die Nase ein und den Mund wieder aus, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.Langsam wusste ich nicht mehr, wie ich mit meinen Gefühlen Schritt halten sollte. Das andauernde Auf und Ab laugte mich aus.Zum Glück hatten Black und Ilan nicht auf eine Antwort von mir gewartet und redeten schon über ein anderes Thema.Auch im Bett waren meine Gedanken weiterhin so durcheinander und so schnell, dass ich nicht mehr mitkam.Ich würde mir wohl noch einmal ein Glas Wasser holen gehen. Ich zog meine grobe Lieblingsstrickjacke über, die mir bis über die Hüften fiel.Halb hoffte ich, noch einmal Ilan zu begegnen. Ich schlich also wieder ins Bad und sah in den Spiegel.Nach kurzem Überlegen öffnete ich meinen Zopf und kämmte ihn mit den Fingern durch, um ihn noch einmal neu zu flechten. Mit einem Blick in den Spiegel beschloss ich, sie offenzulassen. Mein Haar war schön und würden Ilan vielleicht von meinen unbändigen Sommersprossen ablenken.Ich schüttelte den Kopf. Es war wirklich unwahrscheinlich, dass ich ihn noch einmal nachts in der Küche treffen würde.Als ich an der Spüle stand, um Wasser in ein Glas laufen zu lassen, sah ich immer wieder zu Ilans Zimmer. Ich ließ mir viel Zeit, trank ein Glas aus und ließ mir dann ein weiteres Glas einlaufen.Leise seufzend sah aus dem Fenster in den endlich einsetzenden Regen und wollte gerade zurück in Blacks Zimmer gehen, als ich eine Tür hörte. Ich drehte mich halb um und sah Ilan aus seinem Zimmer kommen – tatsächlich.Mein Herz begann sofort wieder schnell und hart zu hämmern, gleichzeitig flatterten die Schmetterlinge in meinem Bauch so durcheinander, dass ich mich an der Arbeitsplatte festhalten musste.Er kam auf mich zu und mit dem Rücken an der Arbeitsplatte, rührte ich mich nicht, als er an mir vorbei griff, um ein Glas aus dem Schrank zu holen. Ich rührte mich auch nicht, als er, während er mir in die Augen sah, hinter mir das Wasser anmachte und sein Glas füllte.Dabei stand er nah vor mir und musste um mich herumgreifen.Ich war wie versteinert.Sein Arm streifte meine Schulter und ich spürte Wärme, die sich von dort aus ausbreitete.Ich hörte, dass er sein Glas abstellte. Ich konnte nicht anders, als hoch zu ihm zu sehen. Sein Blick war auf meine Lippen gerichtet und sein Gesicht näherte sich langsam meinem an.Als ich glaubte, gleich schielen zu müssen, so nah war er an mir, schloss ich die Augen.Eine seiner Hände berührte mein Haar in meinem Rücken.Seine Finger gruben – wühlten sich fast – in mein Haar und ein Schauer überlief mich.Ich glaubte, mein Herz im Hals pochen zu spüren. Sein Atem strich über meine Haut und er roch männlich und herb, nach Erde und Kräutern. Ich spürte seinen Blick förmlich auf meinen Lippen und nahm sie so intensiv wahr, wie nie zuvor.Es war so viel auf einmal, dass mir fast schwindelig wurde.Plötzlich war sein warmer Atem verschwunden.Ich schlug die Augen auf.Schlagartig gefror ich zu Eis.Ich ertappte meine Hand, die zu meiner Kehle wanderte.Ich hinderte sie nicht daran, sondern presste sie sogar an meine nun kalten Lippen, die ungeküsst, begannen zu zittern.Ilan war einige Schritte zurückgewichen und seine Hand wühlte nun in seinen Haaren, statt in meinen und kratzte dann über seine Bartstoppeln. Der Blick aus seinen grauen, wunderschönen Augen war ... entschuldigend, abweisend und ... kühl.Ich hatte es missverstanden! Er hatte mich nicht küssen wollen!Mein Inneres schien nicht zu wissen, was es gerade fühlen sollte.Das vorherrschende Gefühl war aber mit Sicherheit Scham.Ich schämte mich so sehr, dass ich mir das symbolische Loch in der Erde herbeiwünschte, um darin zu versinken.Er wies mich zurück! Ich hatte es missverstanden.Er sah in mir wirklich nur eine Schwester.So wie es Black mir gesagt hatte.Wie sie es mir hatte klarmachen wollen.Meine Lippen zitterten und gleichzeitig stieg Hitze in meine Wangen.„Red ...", doch er sprach nicht weiter.Er schüttelte nur den Kopf und ich konnte deutlich in seinen Augen lesen, dass er mich abwies. Dass er mich nicht wollte.Ich wandte den Blick zu dem zerkratzen Holzboden.Ich konnte ihn nicht ansehen.Ich konnte nicht einmal mehr mit ihm in einem Raum sein.Panisch rasten meine Gedanken.Ich konnte so nicht zurück in Blacks Zimmer.Ich wollte ihr nicht gegenüberstehen.Ich wollte Ilan nicht mehr sehen.Also drehte ich mich um und rannte den kurzen Flur entlang.Ich lief hinaus und hörte hinter mir die Tür zuknallen.Ich wollte nicht, dass er mich weinen sah und so brachte ich möglichst schnell möglichst viel Abstand zwischen Ilan und mich.Es regnete in Strömen. Ich hatte keine Schuhe an und trug nur mein Nachthemd und die dicke Strickjacke. Und es war mir egal.Ich würde nicht mehr zurück ins Haus gehen.Auf keinen Fall! Diese Blöße würde ich mir nicht geben!Meine Gedanken aber wanderten zu dem Film, in dem sie wegen eines Missverständnisses hinaus in den Regen rannte und er ihr hinterherlief und sich alles aufklärte.Die Beiden hatten im Regen gestanden und sich geküsst.Mit hämmerndem Herzen blieb ich stehen und sah zurück zu dem kleinen Haus.Ein kleines Flämmchen der Hoffnung flackerte in mir auf.Ich versuchte, mein rasendes Herz zu beruhigen.Ich atmete tief ein.Und wieder aus.Und noch einmal ein.Und wieder aus.Doch die Tür öffnete sich nicht.Sie blieb zu und er kam nicht hinaus zu mir. Niemand klärte die Situation auf.Da wurde das kleine erbärmliche Flämmchen der Hoffnung von meinen Tränen endgültig ertränkt.Ich lief im Regen, barfuß, zurück zum UBH und hämmerte dort so lange an die abgeschlossene Tür, bis mir eine Betreuerin öffnete.Ohne eine Erklärung drängelte ich mich an ihr vorbei, lief in mein Zimmer und legte mich nass und mit dreckigen Füßen, wie ich war in mein Bett.Ich weinte, wie ich es noch nie getan hatte. Ich weinte, bis ich eingeschlafen war und am Morgen mit hämmernden Kopfschmerzen erwachte.
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Die Einsamkeit der Namenlosen
FantasyBei der Geburt eines Kindes gibt die Mutter diesem einen Namen. Im System hat die Mutter keinen Einfluss auf den Namen, doch sie weissagt damit das zukünftige Leben des Kindes. Kinder, deren Mütter bei der Geburt sterben, bleiben namenlos und wachse...