2. Einige Monate früher

182 22 0
                                    

Ich eilte die Straße entlang und hielt meinen Kopf gesenkt. Meine Haare verengten mir die Sicht, doch ich wollte ohnehin nur den Weg direkt vor mir sehen. Schnell hin, schnell zurück..
Es waren nur wenige Menschen unterwegs am frühen Morgen. Die Luft war kühl und frisch, der Wind strich durch mein Haar und wehte mir meine Locken vor die Augen. Ich sah nur einen Mann und eine Frau, die geschäftig über die Straße hasteten und vermutlich zu ihrer Arbeitsstelle unterwegs waren. Die Glücklichen.
Der Wind pfiff durch die Straße. Ich war spät dran ... wie immer. Ich beschleunigte meine Schritte. Zügig betrat ich das große, mich anwidernde, weiße Gebäude.

Wie an jedem Monatsanfang der letzten drei Jahre scannte ich mein Handgelenk ein und zog den Ärmel meiner grauen Jacke wieder darüber. Dieser blöde Barcode war erniedrigend. Ich hasste ihn und war vermutlich nicht die Einzige. Ich setzte mich, einen Gruß murmelnd, auf einen der ungemütlichen Stühle im Wartezimmer. Ich kannte fast alle Anwesenden schon mein Leben lang, schließlich waren wir gemeinsam aufgewachsen. Sie sind zusammen früher als ich hergegangen. Alle Namenlosen waren am Benennungstag aufgeregt und freuten sich, weil sie hofften, bald aufgerufen zu werden. Zumindest normalerweise.
Ich ging immer so spät los, wie möglich.
Die Namenlosen im Wartezimmer, die ich nicht kannte, mussten aus den angrenzenden Städten kommen. Alle waren zwischen 16 und allerhöchstens 18 Jahren alt. Also alle außer mir, denn ich saß schon das dritte Jahr jeden Monat hier herum. Ich kannte Niemanden sonst, der so lange hierher kam. Ich kannte auch Niemanden, der Jemanden kannte, der schon so lange herkam.
Die Uhr schlug 8 Uhr und die Frau in ihrem schwarzen Kostüm betrat den Raum, eine Liste in der Hand.
„Ich bitte um Eure Aufmerksamkeit", sagte sie und strich eine blonde Strähne hinter ihr Ohr. In dem Raum war es ohnehin komplett still. „B-258 in Zimmer 1. C-314 in Zimmer 2. H-734 in Zimmer 3..."
Die Aufgerufenen verließen mit breitem Grinsen und gesenkten Köpfen den Raum. Ich hörte nicht mehr weiter zu. Ich wurde im 7. Monat geboren und hatte deshalb eine G-Nummer. Offensichtlich war ich mal wieder nicht dabei. Henrietta würde nicht begeistert sein. Das war sie aber ja ohnehin nie.
„Jeden, der nicht aufgerufen wurde, erwarte ich nächsten Monat wieder hier."
Die Frau verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Ich kannte ihren Namen nicht, obwohl ich sie seit drei Jahren jeden Monat einmal sah. Ich sprang auf und hastete raus, damit mich keine der anderen ansprechen konnte und ich nicht mit ihnen zusammen zurückgehen musste.

Zu Hause angekommen atmete ich einmal tief durch und trat durch die große petersiliengrüne Eingangstür von der die Farbe schon seit ich mich erinnern konnte abblätterte. Ich war als Erste zurück.
Henrietta sah mich beim Hereinkommen nur an und reagierte kaum merklich auf mein leichtes Kopfschütteln. Nicht, dass mein Kopfschütteln nötig gewesen wäre. Wie an jedem Monatsbeginn kam ich nach kurzer Zeit zurück und schon allein dadurch wusste sie, dass ich wieder nicht benannt worden war. Alle, die zugeteilt werden, dürfen in einen anderen Raum gehen und dort ... Eigentlich wusste ich nicht genau, was dort passierte. Auf jeden Fall wurden sie bestimmt und benannt und sie kamen nicht mehr zurück hierher.
Niemand von ihnen kam je zurück. Jede, mit der ich hier aufgewachsen war, wurde früher oder später im Wartesaal aufgerufen, durfte in einen der verdammten Räume gehen und kam nie mehr her. Ab und zu habe ich mal Eine von uns in der Stadt wiedergesehen. Ich verließ das Haus selten, aber wenn dann schaute ich mich immer um, ob ich Eine sah. Früher einmal hatte ich mich für die Anderen gefreut, wenn sie aufgerufen wurden.
Da ich mittlerweile keinen Kontakt mehr suchte, hatte das aufgehört.
Wenn ich eine meiner ehemaligen Spielgefährtinnen auf den Straßen gesehen hatte, hatte mein Herz unwillkürlich schneller geklopft und ich hatte unauffällig versucht, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, ohne zu aufdringlich zu sein. Doch sie hatten mich nicht bemerkt oder was wahrscheinlicher war, sie ignorierten mich. Und das tat weh. Vor allem bei K-812.
Ich ging hoch in mein Zimmer.
Seit dem letzten Jahr hatte ich, nach einigem Kampf, ein eigenes für mich. Die gleichaltrigen Mädchen schliefen gemeinsam in Schlafräumen. Mindestens zwei Mädchen, meist eher vier oder mehr lebten zusammen in Zimmern. Ich war zwei Jahre älter als alle anderen hier, außer den Betreuerinnen. Die Ältesten waren 17 und warteten seit einem Jahr auf ihre Berufung. Davon waren zwei übrig und auch sie würden bald aufgerufen werden. Sie blickten immer wieder verstohlen auf mich, wenn sie meinten, ich bekäme es nicht mit. Sie flüsterten über mich.
Ich war ein Kuriosum. Die Anderen hatten Angst und waren gleichzeitig froh, dass es mich gab. Damit waren sie nicht diejenigen, die schon am längsten hier warteten. Das war immer ich. Niemand wartete so lange wie ich. Niemand.

Letztendlich bekam ich eine kleine Kammer, die nur mit ausrangierten, kaputten Möbeln, Besen und allerlei Müll vollgestellt gewesen war. Henrietta hatte mir gesagt, ich könne die Kammer haben, müsste sie aber selbst leer eräumen und mich um Möbel und, was ich sonst so brauchte, kümmern.
Ich schob die Tür auf und quetschte mich hindurch. Sie öffnete nicht komplett, weil das Bett direkt dahinter stand.
Kurz schob ich eine der provisorischen verwaschen bunten Stoffbahnen zur Seite, die ich mir unauffällig abgezweigt hatte und vor das winzige Fenster gehängt hatte, um den Raum gemütlicher zu gestalten. Aus dem Fenster konnte ich einen kleinen Teil des Gartens, meines Lieblingsortes, sehen.
Ich hatte ungefähr 15 Minuten für mich, bis Henrietta ein Mädchen schicken würde, um mich zu holen. Wir hatten jeden Tag Unterricht und verschiedene Aufgaben zu erledigen. An den Benennungstagen musste ich immer in wechselnden Klassen die Geschichte meines „fatalen Fehlverhaltens" erzählen. So nannte es zumindest Henrietta. Es war meine persönliche Hölle und das obwohl ich den Vorfall schon so oft hatte erzählen müssen, dass ich gedacht hätte, dass es mir nichts mehr ausmachen würde.

Von unten drang der scheppernde Klang von Henriettas Glocke herauf. Seufzend stand ich auf, zog schnell meinen Mantel und die durchgelaufenen, braunen Stiefel aus und zog die abgenutzten Hausschuhe an. Noch so etwas worauf Henrietta bestand. Dann lief ich hinunter. Sie erwartete mich schon.
„Wir gehen zu den Kleinen", sagte sie grußlos.
Ich nickte wortlos und folgte ihr. Sie klopfte forsch, strich über ihr Haar – wie immer saß der strenge Dutt perfekt – und öffnete die Tür.
„Edda." Henrietta nickte der Mathelehrerin zu, die sich hinter ihren Schreibtisch setzte und einige Papiere herauszog. Offensichtlich wollte sie die Zeit zur Korrektur von Arbeiten nutzen.
Sie hatte meine Geschichte schon so oft gehört, dass sie sie vermutlich auswendig kannte.
Trotzdem bestand Henrietta darauf, dass ich sie nach jedem Benennungstag erzählte.
„Namenlose." Jetzt wandte sich Henrietta an die Mädchen, die an Einzeltischen im Raum verteilt saßen. Es waren genau dreizehn Mädchen im Raum, die mich mit großen Augen ansahen.
„Ihr kennt die Geschichte von G-769 mittlerweile. Doch ihr sollt daran erinnert werden, was ein Verstoß gegen die Regeln bedeutet." Ihr strenger Blick fixierte nacheinander jedes der Mädchen.
Keine sagte einen Ton.
„Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass ihr euch an die Regeln haltet! Namen werden vom System vergeben und nur vom System!"
Sie nickte mir auffordernd zu. Ich trat vor, strich kurz über mein etwas zu kurzes graues Kleid und fing an.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt