29. Familienstreitigkeiten

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Mein Blick wanderte immer wieder zu der großen hölzernen Tür, die drohend am Ende des Raums aufragte. Ich versuchte, mich auf meine Arbeit mit Chip zu konzentrieren, doch ich war nicht bei der Sache und er bemerkte es selbst.Ich war nervös, weil ich Unit noch nicht gesehen hatte, seit unserem Kuss vor zwei Tagen. Und, dass ich ihn gestern nicht gesehen hatte, machte mich nur unruhiger und nervöser. Ich war ein nervliches Wrack. Dutzende mögliche Gespräche hatte ich mir ausgemalt und verschiedenste Szenarien durchgespielt. Doch die Ungewissheit machte mich verrückt. Eines war jedoch klar. Ich musste die Situation aufklären. Ihm klarmachen, dass ich kein Interesse an ihm hatte.Wenn ich eines aus diesem Abend zog, dann dass ich kein Interesse an einer Liebesbeziehung mit Unit hatte.Nicht nur, weil mir der Kuss nichts bedeutet hatte und sogar unangenehm gewesen war. Auch, weil er zumindest nicht eingeschritten war, als ich mich betrunken hatte und die Situation dann ausgenutzt hatte. Ich gab ihm keine Schuld. Schließlich war ich nicht besser, ich hatte mich nur aus Berechnung mit ihm verabredet.In diesem Moment kamen Units Eltern hereingerauscht und ich rutschte in meinem Stuhl tiefer, um mich kleiner zu machen. Doch seine Mutter, Eva, hatte mich schon gesehen und winkte mich herbei.Ich sah keinen Weg, dem auszuweichen, rappelte mich auf und ging auf Units Büro zu.„Da ist ja deine Namenlose", sagte sie, als ich eintrat.„Mutter", sagte Unit. Ich konnte ein Augenverdrehen nicht unterdrücken.„Wir sind hier, um mit euch eure Hochzeitspläne zu besprechen. Wir sind spät dran für diese Saison, aber vermutlich sollten wir uns sputen. Ich bin nicht so sicher, was die moralischen Werte ..." Sie ließ den Satz unbeendet, ließ aber klar werden, worauf sie hinaus wollte.In diesem Moment zog mich Unit zu sich heran und legte seinen Arm von hinten um meine TailleIch schlug seine Hand grob weg und machte einen Schritt auf das Paar zu.„Nein! Ich werde Unit nicht heiraten! Unbestimmtheit, Namenlosigkeit – egal wie man es nennt – ist keine Krankheit. Die Unbestimmtenhäuser sind auch keine Anstalten. Wir wachsen dort auf, weil uns sonst keiner haben will! Und Stillosigkeit lasse ich mir gern vorwerfen, wenn das heißt, dass ich in Ihre Gesellschaft nicht hineinpasse! Unit."Wütend funkelte ich den Mann an, den ich betrunken geküsst hatte. Oder der mich geküsst hatte, als ich getrunken hatte. Wie auch immer.„Ich hatte einen wirklich schönen Abend mit dir. Leider habe ich zuviel Alkohol getrunken und wusste nicht mehr, was ich tue. Ich weiß trotzdem nicht, wie du auf die Idee kommst, dass wir heiraten könnten. Schließlich habe ich doch deutlich gemacht, dass ich den Kuss nicht wollte. Ich dachte, ich sage dir das, wenn deine Eltern nicht dabei sind, aber wenn ich schon einmal hier bin, mache ich direkt reinen Tisch, dachte ich mir." Ich stemmte die Arme in die Hüften.„Wo war ich? Egal! Ich möchte nicht in eure Gesellschaft reingehören und ich möchte auch nicht mit dir zusammensein. Entschuldigung." Und damit rauschte ich aus dem Zimmer und ließ eine verblüffte Familie zurück. Damit hatte ich auch alles gesagt, was ich schon die ganze Zeit über hatte sagen wollen.Wenig später sah ich Units Eltern, ohne mich eines Blickes zu würdigen, aus dem Büro rauschen.Ich saß erhitzt, aber irgendwie zufrieden an meinem Platz bei Chip und sah Unit an, der in der Tür stand.Er suchte meinen Blick. Mit neutralem Gesichtsausdruck nickte er mir zu. Dann drehte er sich um und schloss die Tür hinter sich.Ich würde ihn nicht fragen, was genau er mit dem Nicken gemeint hatte, aber ich würde es einfach so deuten, wie es mir passte. Er akzeptierte meine Abfuhr und nahm sie mir nicht übel.So war es für alle Beteiligten am leichtesten.„Du hast was?!", kreischte Belle in höchsten Tönen.„Ich habe Unit gesagt, dass es ein Fehler war. Und seinen Eltern habe ich gesagt, dass ich mit ihnen nichts zu tun haben will.", fasste ich zusammen.„Wie kannst du nur?!", kreischte Belle. Dabei sah sie wider Willen beeindruckt aus.„Schon gut", sagte ich. „Ich wollte dich etwas fragen."„Was denn?", fragte Belle. Von ihrem ursprünglichen Thema abgelenkt, war ihre Stimme nicht mehr so schrill.„Ich habe dir doch von meiner Freundin erzählt. Ich will sie unbedingt besuchen. Sie ist noch im UBH, denke ich. Es sei denn sie wurde schon bestimmt..."„Nein", unterbrach mich Belle.Ich sah sie erstaunt an.„Nein", wiederholte sie. „Du kannst sie nicht besuchen. Das System sieht nicht gern, wenn sich ehemalige Unbestimmte nicht einfügen und anpassen. Sie wollen nicht, dass sie weiter Kontakt mit Namenlosen haben. Das ist gesellschaftlicher Selbstmord. Je nach dem kommst du dafür sogar ins Gefängnis."Das erklärte zumindest, warum Grin damals nicht gekommen war, um mich zu besuchen.„Weißt du denn, was wirklich passiert, wenn ich hingehe?", fragte ich.„Nicht so richtig. Ich habe noch von Niemandem gehört, der es gemacht hat."„Dann kann ich es doch einfach versuchen. Sie werden mich nicht nach einem Vergehen ins Gefängnis stecken. Ich bin doch gerade erst raus", witzelte ich. Doch Belle ging nicht darauf ein.„Warte einfach noch ein bisschen ab. Dann finde ich für dich raus, ob Black bestimmt wurde und dann kannst du sie direkt in der echten Welt besuchen", sagte sie ernst.In der echten Welt.Für sie war das hier die echte Welt.Für mich war dies so unrealistisch und absurd, wie es nur sein konnte.Das UBH war für mich die echte Welt.Und Ilans Haus.Ich könnte mich auch überwinden und direkt zu Ilan gehen. Er wusste schließlich, wo Black war.„Ich könnte auch zu Il..."„Nein!", unterbrach sie mich abermals. „Nein. Tu das nicht. Lass mich herausfinden, was aus Black geworden ist und ich sage dir Bescheid."„Aber war..."„Versprochen. Ich kümmer mich. Lass mich mal machen", unterbrach sie mich schon wieder.Ich runzelte die Stirn.„Ich habe nie etwas Falsches getan. Was spricht dagegen, dass ich einen Besuch im UBH mache? Sie werden mich nicht sofort verhaften, weil ich einen Fehler mache. Selbst, wenn ich eine Anzeige bekomme, dann nehme ich das halt hin", schoss ich schnell heraus, damit sie mich nicht wieder unterbrach.„Dann mach halt", meinte sie schnippisch. „Wenn du meinst, dass dein Ruf das ab kann? Ich würde nichts riskieren, nur um irgendwelche verlotterten Namenlosen wiederzusehen."Ich schnappte nach Luft. Belle hatte bisher immer neutral oder sogar positiv von Unbestimmten gesprochen.Wobei ich zugeben musste, dass wir das Thema, soweit es ging, vermieden hatten.„So denkst du also über uns?", fragte ich leise.„Über euch? Du bist keine mehr von denen! Du bist bestimmt. Benannt. Du bist berühmt! Das Computer Genie, das möglicherweise die Zukunft rettet oder was sie auch immer blödsinniges über dich schreiben."Ich sah sie mit offenem Mund an.„Es wird Zeit, dass du erwachsen wirst und dich nicht mehr benimmst, wie ein verwöhntes Balg, das weltfremd in seiner schönen Welt aufgewachsen ist und dem es egal ist, was andere denken."„Mir ist es nie schlecht gegangen im UBH, aber die Namenlosen sind Ausgestoßene. Hast du eine Ahnung, wie es ist ausgestoßen zu sein? Kein eigenes Geld, keine eigenen Sachen zu haben? Keine Familie? Nichts! Du hast doch keine Ahnung, wie es ist in einem UBH aufzuwachsen. Du hast keine Ahnung!", presste ich zwischen meinen Zähnen hervor.Sie sammelte in diesem Moment energisch ihre Sachen zusammen und schien gehen zu wollen.„Vater wartet. Ich muss gehen."Ich nickte zustimmend. Türenknallend verließ sie meine Wohnung und ließ mich vollkommen baff zurück.Es wird Zeit, dass du erwachsen wirst und dich nicht mehr benimmst, wie ein verwöhntes Balg, Belles Worte echoten durch meinen Kopf, als sie schon längst weg war.Auch die ganze nächste Woche über gingen sie mir nicht aus dem Kopf. Es wird Zeit, dass du erwachsen wirst.Unit hatte mich zum Glück einfach ignoriert und Chip hatte meine Abgelenktheit stoisch über sich ergehen lassen. Ich hatte ihm von meinem Streit mit Belle erzählt, hatte aber den Auslöser für den Streit und die Peinlichkeiten, was Unit anging, weggelassen.„Sie war wirklich fies und schien ziemlich enttäuscht von mir zu sein", erzählte ich gerade, während ich mit ihm an einem geöffneten Rechner herumschraubte. „Vielleicht hat sie ja sogar Recht damit. Sie hat so viel für mich getan. Sie hat dieses tolle Kleid genäht, extra für mich."Chip reichte mir einen kleinen Kreuzschraubenzieher an. Er brummte etwas unverständliches, räusperte sich und sagte dann:„Das ist wirklich nett. Solche maßangefertigten Kleider sind nicht ganz günstig. Dass sie dir eins geschenkt hat, zeigt, dass du ihr Einiges bedeutest."Ich sah ihn unsicher von der Seite an, während ich eine verrostete Schraube zu lösen versuchte.„Naja. Geschenkt hat sie es mir nicht. Ich musste es bezahlen." Chip runzelte die Stirn. „Sie hatte sie mir zuerst für einen Familienpreis überlassen, aber ihre Chefin hat anscheinend darauf bestanden, dass der gesamte Preis gezahlt werden müsste."Chip schwieg lange. So war es häufig mit ihm. Unsere Gespräche waren durch lange Pausen gekennzeichnet, doch ich wusste mittlerweile, dass er ein sehr bedachter und überlegter Mann war. Er sagte nichts schnell und unüberlegt.Die Schraube löste sich und ich machte mich an die Zweite. Als ich gerade die dritte begutachtete und die gefürchteten Zeichen einer durchgedrehten Schraube ausmachte, sagte er:„Möglicherweise bin ich nur misstrauisch ... aber ..." Ich sah ihn fragend an. Er räusperte sich. „Wie viel hat sie dich zahlen lassen?" Ich nannte ihm den groben Preis und er zog eine Augenbraue hoch.„Das war der Familienpreis. Sie hat sich dann noch um die, keine Ahnung. Noch einiges genommen. Ich habe nicht so wirklich einen Überblick über mein Geld", meinte ich verunsichert.Chip zog die Brauen so weit zusammen, dass sie sich über den Augen fast trafen. Er sah richtiggehend gefährlich aus. Wenn ein so weicher, freundlicher Mann, wie er je gefährlich aussehen konnte, dann tat er es jetzt.„Das ist viel zu viel! Sie nimmt dich aus", meinte er dann und sah sehr ernst dabei aus. Mir blieb der Mund offen stehen.Würde Belle so etwas tun? Ich musste zugeben, ich hatte keine Ahnung. Auch, wenn sie meine Schwester war, kannte ich sie doch kaum.Eigentlich wusste ich überhaupt nicht, wer sie war.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt