5. Warum Gespräche überbewertet werden

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Wieder einmal ging ich die Straße entlang und hielt meinen Kopf gesenkt. Meine langen roten Locken verengten mir die Sicht, doch ich wollte ohnehin nur den Weg direkt vor mir sehen. Ich hatte wie immer keine Lust mich länger als nötig beim Amt aufzuhalten.
Außer mir waren nur vier andere Personen auf der Straße.
Ein kleiner Junge an der Hand seiner misstrauischen Mutter, die sich andauernd umsah und schnell die Straßenseite wechselte, als sie mich kommen sah. Sie zog den Kleinen, der interessiert zu mir guckte, hinter sich her über die Straße. Ich lächelte ihm zu, als er sich noch einmal zu mir umdrehte.
Außerdem lief ein schwarzhaariges Mädchen schnellen Schrittes vor mir. In ihren glänzenden glatten Haaren spiegelte sich die Morgensonne. Ich kniff die Augen zusammen und sah wieder auf meinen Weg.
Die letzte Person war ein dunkelhaariger Mann in grober Arbeitskleidung, der in diesem Moment geschäftig und zielstrebig an mir vorbei in die entgegengesetzte Richtung hastete. Er hatte dem dunkelhaarigen Mädchen lächelnd zugenickt.
Einen Moment sah ich ihm aus den Augenwinkeln nach. Er war groß, hatte breite Schultern und sein kurzes Haar war schwarz. Vermutlich war er unterwegs zu seiner Arbeitsstelle, der Glückliche.
Ich beschleunigte meine Schritte und betrat hinter dem Mädchen das große, weiße, verhasste Gebäude.

Wie an jedem ersten Montag im Monat scannte ich mein Handgelenk ein und zog den Ärmel meiner grauen Jacke lang, um den hässlichen Barcode zu verdecken.
Ich setzte mich, ohne den Blick zu heben, auf einen der Stühle in das Wartezimmer. Wie immer. Ich murmelte einen Gruß, schließlich kannte ich die meisten Anwesenden schon ihr Leben lang, denn wir wohnten zusammen. Ich musste mich räuspern, bevor meine Stimme mir wirklich gehorchte. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal etwas gesagt hatte.
Auch das schwarzhaarige Mädchen setzte sich in diesem Moment. Sie war wahrscheinlich letzte Woche 16 geworden und das erste Mal hier. Sie musste aus einem UBH einer anderen Stadt kommen, denn ich hatte sie noch nie gesehen.
Es war ungewöhnlich, dass man hier Jemanden gar nicht kannte.
Die Uhr schlug 8 Uhr und die Frau im schwarzen Kostüm betrat den Raum, wie immer eine Liste in der Hand.
„Ich bitte um Eure Aufmerksamkeit", sagte sie. In dem Raum war es still. „A-271 in Zimmer 1. A-349 in Zimmer 2. E-344 in Zimmer 3, H-881..." Wie immer las sie schnell und effizient.
Die Aufgerufenen verließen mehr oder weniger grinsend den Warteraum. Ich hörte nicht mehr zu. Eine H-Nummer wurde aufgerufen, also würde meine G-Nummer nicht mehr kommen.
„Jeden, der nicht aufgerufen wurde, erwarte ich nächsten Monat wieder hier.", sagte die Frau ohne Namen. Ich sprach ihren Satz in Gedanken mit und bemerkte, dass ich sogar das passende Gesicht dazu machte, wie um sie nachzuäffen. Schnell versuchte ich, meine Gesichtszüge zu entspannen.
Außer mir wurden vier Andere nicht aufgerufen, darunter das schwarzhaarige Mädchen. Einen Seufzer unterdrückend, wollte ich den Raum verlassen, als mich eine leise Stimme von hinten aufhielt.
„Entschuldigung... Wenn ich nicht aufgerufen wurde, dann heißt das, dass ich..."
„Dass du namenlos bleibst", antwortete ich dem schwarzhaarigen Mädchen giftig. Sie trug ein gut gearbeitetes Kleid aus einem einfachen Stoff, doch es passte ihr wie angegossen. Sie hob den Kopf und sah mich grimmig aus ihren erstaunlich grauen Augen an. Sie hatten genau die gleiche Farbe wie ihr Kleid.
„Vielen Dank. Das wusste ich auch schon", sagte sie scharf. Überrascht blickte ich sie an. Weil sie so zierlich und klein war, hatte ich keine Erwiderung erwartet. Ich mochte es nicht, wenn ich mich selbst dabei ertappte, dass ich vorschnell geurteilt hatte. Kurz schwieg ich.
„'Tschuldige", presste ich dann hervor. Es war nicht so, dass ich mich gerne entschuldigen würde. „Dieser Blödsinn hier macht mich immer wütend."
Sie starrte mich ungläubig an.
„D... du kannst doch nicht...", stammelte sie.
„Was? So reden? Weil ich dann keinen Job bekomme?", antwortete ich bissig.
„D...d...deine Bestimmung...", verbesserte sie mich stammelnd. Ihr Gesicht wurde streng. „Wenn du so redest, wirst du nie eine bekommen", sagte sie dann ohne Stottern und musterte mich genau.
Ich schnaubte und wandte mich ab. Ich verließ, ohne mich noch einmal umzudrehen, den Raum. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so unfreundlich gewesen war. Allerdings hatte ich so ein langes Gespräch lange nicht mehr geführt. Vor allem nicht mit Jemandem, den ich überhaupt nicht kannte. Nicht, dass ich sonst ein Sonnenschein wäre, aber sie hatte mir letztlich nichts getan. Mein Herz zog sich zusammen. Sie fand mich vermutlich unwirsch und konnte mich nicht leiden.
„Hey, warte." Ich drehte mich nicht um.
„Wie heißt du?", rief sie mir nach.
Ich schnaubte und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt