11. Was man ignoriert, löst sich von selbst

89 10 4
                                    

Ich lag die ganze Nacht wach und grübelte vor mich hin. Ich konnte meine Gedanken nicht abstellen und war irgendwann zu dem Entschluss gekommen, dass ich nichts an der Situation ändern konnte.
Ich beschloss, das Ganze einfach nicht mehr zu erwähnen und nicht mehr darüber nachzudenken. Es würde sich schon ein Weg finden und sich allein lösen.
Zumindest redete ich mir das so ein.
Mein wirrer Traum, in dem ich von einer Mauer ins Nichts lief und Schüsse hinter mir krachten, während Henrietta mir zurief, dass ich nur fest daran glauben müsste, dann würde ich bestimmt werden, sprach eine andere Sprache.

Zum Frühstück holte ich mir eine Portion Haferbrei und versuchte mich über die kleinen Erdbeeren zu freuen, die darauf lagen. Es fühlte sich etwas gekünstelt an.
Quasselstrippe kam auf mich zu und ich versuchte meinen Entschluss einfach das Beste aus der Situation zu machen sofort umzusetzen.
„Guten Morgen. Wie war dein Wochenende?", fragte ich sie lächelnd. Erst als ich ihren irritierten Blick bemerkte, ging mir auf, was ich vergessen hatte. Wie eine Gießkanne kaltes Wasser in den Kragen, wurde ich an unser seltsames Auseinandergehen erinnert. Ich behielt, etwas angestrengt, mein Lächeln bei. Quasselstrippe lächelte vorsichtig zurück.
„Guten Morgen. Es war ganz nett", antwortete sie und setzte sich zu mir. Sie nahm einen Löffel Haferbrei und sagte:
„Ich habe viel darüber nachgedacht, wie ich auf dich reagiert habe."
Ich verkniff mir, ihr zu sagen, dass man mit vollem Mund nicht spricht. Sie schluckte. „Es war unfair. Tut mir leid. Ich habe persönliche Dinge über deine Familie ... aus dir herausgezwungen und dann nicht auf deine Frage geantwortet."
Überrascht sah ich sie an. Ich hatte mich darauf eingestellt, mich bei ihr zu entschuldigen, weil ich Dinge gefragt hatte, die mich nichts angingen.
Doch jetzt, wo sie es aussprach, musste ich zugeben, dass sie schon recht hatte. Ich hatte ihr, nicht ganz freiwillig, anvertraut, dass mein Vater mich entweder im Stich gelassen hatte oder tot war und sie hatte mich einfach abgeblockt.
„Hm", machte ich unverbindlich.
„Komm schon. Sei mir nicht böse. Ich mache es wieder gut", sagte sie und lächelte mich so entwaffnend an, dass ich mir mein zweites ‚Hm' verkniff.
„Schon gut", sagte ich.
„Nein. Es ist nicht schon gut. Du darfst auch sauer auf mich sein, aber du musst mir verzeihen. Wie wäre es, wenn du nächstes Wochenende mit mir nach Hause kommst. Du kannst meinen Bruder kennenlernen und wir können zusammen was Leckeres kochen. Oder so", endete sie lahm.
Ich seufzte.
„Ich verzeihe dir, auch ohne, dass du mich mitnimmst", sagte ich. „Aber ich komme trotzdem gerne zu dir und lerne deinen Bruder kennen."
Quasselstrippe schaffte es, im Sitzen aufgeregt auf und ab zu hüpfen, und klatschte dabei, wie ein kleines Mädchen in die Hände. In diesem Moment sah sie aus wie 12.
Noch einmal seufzte ich. Das würde eine gute Ablenkung sein. Alles, um nicht über die drohende Ausweisung nachzudenken.
„Aber du fragst Henrietta, ob ich mit dir gehen darf."

Die Woche verging wie im Flug und ich war erstaunt, dass Henrietta ohne Weiteres erlaubte, dass ich mit Quasselstrippe ihren Bruder besuchen ging. Ich selbst war Henrietta aus dem Weg gegangen und hatte Quasselstrippe vorgeschickt, die nach wenigen Minuten glückstrahlend zurückgekommen war.
Ich musste zugeben, dass ich mir die Gedanken machte über mein erstes Zusammentreffen mit einem Mann.
Ich hatte zwar durchaus schon Männer getroffen, aber noch nie näher mit einem gesprochen und schon gar nicht ein Wochenende lang in demselben Haus geschlafen.
Meine Gedanken wanderten von den romantischen Geschichten und Filmen, die ich kannte, in denen Männer zuvorkommende, nette, liebevolle Personen gewesen waren zu den Schreckgeschichten, die unter den Mädchen erzählt wurden. Über Männer, die aus Wut zuschlugen, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle hatten und schrien und tobten. Über Männer, die Frauen misshandelten oder Schlimmeres. Ich war irgendwann so nervös und fahrig, dass ich froh war, als der Samstagmorgen kam und wir losgehen konnten.

Ich hatte zwei meiner nicht allzu verschlissenen und sauberen Kleider eingepackt und dazu etwas frische Wäsche. Ich hatte, nach kurzem Überlegen, einen Korb aus dem Gartenschuppen geholt und diesen notdürftig sauber gemacht, um meine Kleider hineinzulegen, denn ich besaß keine Tasche. Außerdem nahm ich zwei meiner Tomatensetzlinge mit, die schon eine schöne Größe erreicht hatten und keinen Platz in den Beeten oder im Gewächshaus gefunden hatten. Einer davon war meine eigene Züchtung. Ich hoffte, dass Quasselstrippes Bruder etwas damit anfangen konnte. Sie hatte zwar erzählt, dass er Gärtner war, aber das hieß ja nicht, dass er auch in seiner Freizeit gern gärtnerte.
Aus mir selbst nicht ganz klaren Gründen war es mir wichtig etwas mitzubringen. Vielleicht würde es ihn freundlich stimmen.
Quasselstrippe stand schon aufgeregt zappelnd im Flur vor dem Ausgang und wartete auf mich.
„Ich dachte schon, du kommst nicht. Hast du da etwa Pflanzen für meinen Bruder dabei?" Sie verzog das Gesicht.
Erschrocken wollte ich die Pflanzen schon zurückbringen, als sie mich zurückhielt.
„Schon gut, schon gut. So war das nicht gemeint. Ich dachte nur gerade, dass ihr euch bestimmt gut verstehen werdet und wahrscheinlich ewig über uninteressanten Pflanzenkram sprechen werdet und ich werde mich langweilen."
Ich lächelte sie unsicher an.
„Also ist es in Ordnung, dass ich die Tomaten mitbringe?"
„Tomaten? Das ist ja noch schlimmer. Er liebt Tomaten", sie verzog wieder das Gesicht und ich musste, etwas nervös, lachen. „Komm schon. Ich will los."
Sie hakte sich unter und wir traten auf die Straße.

Ich war noch nie mit ihr zusammen draußen gewesen und es war seltsam.
Quasselstrippe redete den ganzen Weg lang. Sie war offensichtlich aufgeregt. Sie erzählte wieder von dem Onkel, der die Geschwister letztes Wochenende eingeladen hatte und, der kurz vor dem Treffen spontan abgesagt hatte. Sie mutmaßte, dass er ihrem Bruder gesagt hatte, er dürfe mit ihr erst vorbeikommen, wenn sie benannt war. Allerdings hatte ihr Bruder das nie bestätigt.
Während unseres Gesprächs nahm ich kaum etwas von den kleinen Gässchen unserer Stadt wahr.
Wir standen schneller, als ich es erwartet hatte vor der Tür des kleinen Hauses, das etwas außerhalb der Stadtmitte gelegen war. Die direkten Nachbarhäuser waren einige Meter entfernt und das Haus war umgeben von einem kleinen, verwilderten Garten. Ein heruntergekommener Holzzaun grenzte den Garten nach außen ab.
Ein quietschendes Gartentor hatte uns schon angekündigt, denn die Tür ging auf, als wir davor standen.

Quasselstrippe fiel ihrem Bruder um den Hals und er hatte sie, zwei Schritte nach hinten stolpernd aufgefangen.
Dabei hatte ich einen weiteren Blick riskieren können und kurze dunkle Haare gesehen, ein kantiges, stoppeliges Kinn, lächelnde Lippen und die gleichen klaren grauen Augen, wie bei seiner Schwester.
Er hatte sie problemlos hochgehoben und wie ein Kind einmal herumgewirbelt. Sie sah auch wie ein Kind in seinen Armen aus. Sie hätten kaum unterschiedlicher sein können und trotzdem erkannte man sofort, dass sie Geschwister waren.
Wo sie klein und zierlich war, war er groß und kantig; wo sie blass und zart war, war er braungebrannt und stark. Doch die grauen Augen, die dunklen Haare und auch der Mund waren aus einem Guss.
Quasselstrippe sah neben ihrem Bruder aus, wie eine zierliche Porzellanpuppe mit ihren großen grauen Augen und der blassen Haut.
Ich spürte ein nervöses Flattern in meinem Magen.
Er hielt mir die Hand hin und ich ergriff sie zögernd. Ich hatte kaum je jemandem die Hand geschüttelt und war unsicher, was ich genau zu tun hatte.
Eine Art elektrischer Schlag durchzuckte mich, als sich seine große raue Hand um meine schloss.
Ich ließ schnell wieder los. Doch mir war von der Hand ausgehend ganz warm geworden.
Ich spürte die Wärme schon in meine Wangen hochsteigen.
„Ich heiße Ilan. Du musst Red sein."

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt