31. Vidar

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Als die Tür mit einem Summen aufging, fiel ich beinahe in den Flur, da ich mich so nah an sie gedrängt hatte, um dem Regen zu entgehen. Mit einem schnellen Ausfallschritt rettete ich mich vor einem Sturz. Es war dunkel im Flur und ich tastete nach dem Lichtschalter, doch als ich ihn drückte, flackerte nur eine Lampe kurz auf und erlosch dann schnell wieder.Im Dunkeln sah ich zwar nicht allzu viel, aber ich war froh, dass auf meinen braunen Stiefeln die Dreckspritzer von dem Regen nicht sichtbar waren. Auf dem Saum meines weißen Kleides allerdings schon. Ich versuchte, unauffällig einen der Flecken abzuklopfen, doch als es nur schlimmer wurde, ließ ich es bleiben. Die Ärmel meines Wollpullovers wieder über meine Finger ziehend, ging ich die abgenutzte Holztreppe nach oben. Beim Hochgehen zog ich meine Strickstrümpfe nochmal über meine Knie hoch. Das Klingelschild hatte gezeigt, dass die Wohnung oben lag, auch das bunte Fenster war im ersten Stock aufgeleuchtet. Ich bemühte mich um sichere Schritte, doch ich bemerkte selbst, dass ich immer langsamer wurde.In einer offenen Tür konnte ich gegen das helle Licht lediglich die Silhouette eines großen, schlanken Mannes im Rahmen erkennen. Unsicher ging ich auf ihn zu.Plötzlich alle meine sorgfältig durchdachten Sätze vergessend, stand ich einfach vor diesem großen Mann, der mich um etwa einen halben Kopf überragte und von dem ich blinzelnd versuchte, mehr zu sehen, als Umrisse.„Lara?", fragte der Mann mit einer rauen tiefen Stimme.„Nein", ich räusperte mich.„Bist du es? Aber ... Belle hat doch gesagt, dass ...", er verstummte.Langsam gewöhnten sich meine Augen an das Licht. Ein großer Mann, schlank, aber mit einem kleinen Bauchansatz stand vor mir. Sein Haar war eine Mischung aus blond und grau, eher glatt, als lockig. Unsere Locken hatten Belle und ich also nicht von ihm. Er hatte einen unordentlichen Bart, der grau den unteren Teil seines Gesichtes bedeckten. Seine braunen Augen waren weit geöffnet und sahen mich verwirrt an.„Hallo. Vater", sagte ich. Ein unbestimmtes Geräusch von sich gebend, machte er die Tür für mich frei und bat mich mit einer Armbewegung herein.Ich folgte seiner Aufforderung und trat in eine kleine vollgestellte Wohnung ein, die ihre besten Tage hinter sich hatte.Alles war sauber, aber abgenutzt und voll gestellt. Es roch nach Sägespänen und Holz. Auf einem Sessel stand ein Korb mit einem Nähprojekt, das vermutlich Belles war.In der Nähe des bunten Fensters standen ein Stuhl und ein kleiner Tisch. Auf dem Tisch lagen verschiedene Werkzeuge und ein Stück Holz. Um den Tisch herum lagerten verschieden große Holzstücke in unterschiedlichen Stadien der Bearbeitung.„Ich... Ich habe gerade gearbeitet", brachte der Mann mit weiterhin rauer Stimme hervor. Seine Stimme klang so, als habe er heute oder auch allgemein nicht viel geredet. „Ich bin Tischler."Ich nickte.„Möchtest du. Ähm. Einen Tee?", fragte er unsicher. Ich nickte abermals und sah mich weiter um. „Belle macht solche Dinge normalerweise. Ich ..." Unsicher begab er sich in die Küchenzeile und machte unorganisiert einige Schränke auf und wieder zu. „Ich weiß nicht, wo sie Tee und ..."Einen Augenblick sah ich seinem konfusen Suchen zu und trat dann zu ihm.„Soll ich den Tee machen?", fragte ich freundlich.Er sah verwirrt zu mir herab.„Aber du weißt auch nicht, wo ..."„Ich finde mich schon zurecht.", widersprach ich, öffnete einen Schrank, in dem ich Töpfe vermutete und auch einige abgenutzte Exemplare fand. Ich zog einen kleinen Topf heraus und füllte ihn mit Wasser. Den Deckel aufsetzend, stellte ich den Topf auf den Herd. In einem anderen Schrank fand ich zwei angeschlagene Tassen, die möglicherweise einmal ein blaues Muster gehabt hatten. Meine weitere Suche förderte eine kleine Kiste mit Tee hervor, aus der ich willkürlich einen herauszog und diesen in den Tassen vorbereitete.Der Mann – Vidar, mein Vater – hatte sich mittlerweile auf einem alten, gemütlich aussehenden Sessel, der nicht zu den restlichen Möbeln passte, niedergelassen und sah mir mit großen Augen bei meiner Arbeit zu.„Ich habe gedacht, dass du Lara bist. Du siehst ihr so unglaublich ähnlich.", brachte er hervor.„Hieß meine Mutter so?", fragte ich, „Lara?"Er sah mich erschüttert an. Möglicherweise war ihm nicht bewusst gewesen, dass das für mich eine neue Information war. Ich hatte bis heute weder gewusst, wie mein Vater, noch wie meine Mutter hieß.Er nickte. Ein unbehagliches Schweigen entstand.„Sie hatte ebenso feuerrotes Haar wie du und sie trug es manchmal auch so ähnlich wie du. Wenn es offen war, fiel es ihr in Locken bis zur Taille", erzählte er leise. Ich stand mit dem Rücken zu ihm und schloss meine Augen.So wie mein Haar.„Sie hatte auch diese Sommersprossen. So wie du. Als wir uns kennenlernten, war ihr Haar das erste, was ich von ihr sah. Das zweite waren ihre Sommersprossen. Sie waren so wunderschön, so verspielt. Sie spiegelten ihren Charakter perfekt wider. Ihre Fröhlichkeit. Ihre Lebensfreude."Als das Wasser zu kochen begann, goss ich es vorsichtig in die beiden Tassen. Langsam hob ich die Tassen an und trug sie zu dem kleinen Tisch vor dem Sessel und setzte mich auf das durchgesessene Sofa. Es war überraschend gemütlich. Es erinnerte mich an meinen Leseplatz im UBH.„Jetzt im Licht erkenne ich die Unterschiede. Ihre Augen waren grün. So stechend, dass sie tief in Einen hineinsahen. Deine sind braungrün. So wie Belles, so wie ..."„Deine", beendete ich seinen Satz und sah ihm in besagte braune Augen. Er nickte und sah mich stumm an.„Und du bist größer als sie."Einige Momente lang sahen wir uns schweigend an.„Leah.", unterbrach ich die Stille. „Wer ist das?"Er sah abermals erschrocken aus. Er blinzelte mehrmals, bevor er sprach. Als er es tat, war seine Stimme rau und belegt:„Lara – deine Mutter – war so glücklich, als sie mit dir schwanger war. Belle war schon 8 – oder 9? – als sie schwanger wurde. Es war eine Überraschung. Wir dachten, es würde bei einem Kind bleiben. Sie überlegte sich die ganze Schwangerschaft über, wie du heißen solltest. Sie hätte natürlich keinen Einfluss darauf gehabt, aber sie hat sich gerne verschiedene Möglichkeiten überlegt. Sie hat sich andauernd umentschieden und mich und Belle damit ganz verrückt gemacht. Belle war ziemlich eifersüchtig, schließlich war sie immer Einzelkind gewesen, aber irgendwann hat Lara sie mit ihrer Freude angesteckt." Seine Finger rieben an einem Fleck auf seinem karierten Hemd herum. „Die Schwangerschaft war schwierig, aber ihr war es egal. Sie hat sich so auf dich gefreut. Je nachdem, wie sie sich fühlte, hat sie einen anderen Namen für dich gut gefunden. Der letzte Name ist Leah gewesen. Sie dachte, du würdest irgendeine Arbeit in der Natur bekommen. Für mich ist das dein Name." Er griff nach der Tasse, die vor ihm auf dem Tisch stand. Wahrscheinlich wollte er nur, so wie ich, etwas mit den Händen zu tun haben.„Leah hätte mir gut gefallen", sagte ich leise. „Im UBH haben sie mich Red genannt."Er schnaubte:„Wie kreativ."Ich lächelte ihn unsicher an und er erwiderte mein Lächeln ebenso unsicher.„Wie alt bist du jetzt? Du musst doch ..." Ich sah förmlich, wie sein Gehirn arbeitete.„Ich bin 20. Ich wurde kurz vor meinem 20. Geburtstag bestimmt. Die älteste Unbestimmte, die es je gab." Er sah mich aus großen Augen an. „Das stand in allen Zeitungen. Belle hat mir erzählt, dass ..."„Sie hat dir erzählt?", unterbrach er mich. „Du kennst deine Schwester?"Jetzt sah ich ihn aus vermutlich genauso großen Augen an.„Ja. Sie ist fast jedes Wochenende bei mir gewesen, seit ..." Ich sah ihm an, dass das eine neue Information für ihn war. Aber Belle hatte doch gesagt, dass ...„Belle hat mir gesagt, dass du nichts mit mir zu tun haben willst. Weil ich dich zu sehr an unsere ... an unsere Mutter erinnern würde. Und sie hat mir auch erzählt, dass du vor ihr verheimlicht hättest, dass es mich gibt und sie ..." Hier unterbrach ich meinen Gedanken noch einmal. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich hatte bisher nicht darüber nachgedacht, aber er hatte doch erzählt, dass Belle schon 8 oder 9 gewesen sei, als ich geboren wurde. Wie hätte er ihr da verheimlichen können, dass es mich gab? Sie hatte es gewusst.Sie hatte mich angelogen.Natürlich hatte sie immer gewusst, dass es mich gegeben hatte. Aber erst als sie in der Zeitung von mir gelesen hatte, da ...Ich erinnerte mich an mein Gespräch mit Chip und daran, dass er gemeint hatte, dass Belle mich ausnehmen würde.Ich sah mich in der kleinen, gemütlichen und unleugbar abgewohnten Wohnung um. Konnte es wirklich sein, dass sie mich nur gesucht und gefunden hatte, weil sie Geld von mir wollte?„Belle ist eine gute Tochter", unterbrach mein Vater meine wirren Gedanken. „Sie kümmert sich um mich. Sie tut alles. Sie führt den Haushalt, sie hat einen guten Job. Ich sage ihr immer, dass es Zeit wird und sie sich einen Mann suchen soll, eine Familie gründen. Schließlich bin ich ein erwachsener Mann, ich kann allein leben. Aber sie scheint zu glauben, dass ich das nicht kann." Er räusperte sich etwas unbehaglich. „Du musst wissen, dass ich nach Laras ... Tod. Dass ich in ein Loch fiel. Ich habe mich um nichts mehr gekümmert. Ich habe mich nicht gekümmert, wo du hingekommen bist. Auch nicht um das kleine Mädchen, das bei mir war und ebenso um seine Mutter getrauert hat, wie ich um meine Frau. Jedenfalls ... ich habe es zuerst gar nicht bemerkt, aber sie hat sich selbst beigebracht alles für mich zu machen. Sie hat sich um den Haushalt gekümmert. Sie ist einkaufen gegangen, als ich es nicht tat und sie Hunger hatte. Ich habe mich um nichts gekümmert. Den Großteil des Tages saß ich einfach hier und habe vor mich hingestarrt. Ich bin seit zwei Jahren in Therapie. Da spreche ich über diese Sachen. Belle will nicht mit mir reden und schon gar nicht mit dem Therapeuten. Nicht über ihre tote Mutter. Gespräche über dich hat sie mir immer verboten und mir vorgeworfen, dass sie wohl nicht genug wäre. Mein Therapeut sagt, dass sie vielleicht ..." Seine raue Stimme wurde mit jedem Wort etwas fester. „Dass sie vielleicht eifersüchtig sein könnte. Auf dich. Obwohl wir dich nicht kennen. Er hat mir empfohlen abzuwarten. Damit sie sich an den Gedanken gewöhnen kann." Er wich meinem Blick aus und ich sah beharrlich auf das bunte Fenster, an dem von außen Wasserschlieren herunterliefen. Bunte Flecken leuchteten auf dem Fußboden, wo das wenige Licht das Fenster von außen beleuchtete.„Ich dachte, dass du schon lange bestimmt wärst und mit uns nichts zu tun haben willst. Normalerweise werden die Kinder doch mit 16 benannt. Ich dachte, dass es keinen Unterschied macht und ich abwarten könnte, bis Belle sich an den Gedanken gewöhnt, bevor ich dich suchen gehe."Ein seltsames Geräusch kam aus meiner Kehle. Etwas zwischen Schluchzen und Keuchen. Ich konnte ihn nicht ansehen. Meine Hand krallte ich in die Lehne des alten Sofas.Irgendwann spürte ich ganz vorsichtig eine warme, raue, große Hand, die sich auf meine legte.Ich sah auf unsere beiden Hände und versuchte mir vorzustellen, wie es sein würde einen Vater zu haben.Etwa eine Stunde später trank ich meinen kalt gewordenen Tee aus, versprach Vidar, dass ich ihn wieder besuchen kommen würde, und verließ die Wohnung, in der ich aufgewachsen wäre, wenn alles anders gekommen. In der ich eine glückliche Kindheit hätte haben können. Ich wäre von meinen Eltern geliebt worden und hätte eine ältere Schwester gehabt, die auf mich aufgepasst hätte.Doch so war es nicht gekommen.Aber ich würde trotzdem das Beste daraus machen.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt