30. Der Beginn des Erwachsenwerdens

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Am nächsten Samstag stand ich früh auf, zog mich sorgfältig an. Mein Kleid hatte einen hübschen Eierschalen-Ton, ich flocht mein Haar zu zwei Zöpfen, wand sie um meinen Kopf und machte mich nervös und gleichzeitig freudig auf den Weg.Je länger ich unterwegs war, desto trister wurden die Häuser. Es war mir früher nie aufgefallen, es war auch nichts, das direkt ins Auge fiel.Aber je mehr man sich dem UBH annäherte, umso mehr Dinge fielen auf. Hier abblätternde Farbe. Dort ein fehlender Ziegel. Kleinigkeiten, die mir jetzt auffielen, nachdem ich eine Zeit lang – einige Monate – in dieser luxuriösen, riesigen, leblosen Wohnung lebte.Was auch immer es war, ich fühlte mich wieder heimisch.Schon von weitem sah ich die große grüne Tür, von der die Farbe schon abblätterte, seit ich denken konnte und ich spürte Nervosität in mir aufsteigen. Das Wetter war trüb und trist und schien meine Aufregung damit anstacheln zu wollen. Ich hoffte, dass Black noch da war und mir nicht böse war, weil ich so lange gebraucht hatte, um herzukommen. Gleichzeitig wünschte ich mir für sie, dass sie schon bestimmt war. Dann würde es schwieriger werden sie zu finden, aber hoffentlich nicht unmöglich.Was Henrietta sagen würde, wenn ich vor der Tür stand? Heute war kein Besuchstag, aber ich hatte nicht abwarten können. Ich musste jetzt mit Black sprechen, mich jetzt mit ihr versöhnen. Vielleicht konnte sie mir helfen, was meinen Streit mit Belle anging. Ich hatte keine Erfahrungen mit Geschwisterstreit. Sie schon. Vielleicht wüsste sie, was ich tun sollte.Vor der grünen Tür angekommen, atmete ich tief durch, bevor ich energisch anklopfte.Ich wartete einige lange Momente und, als ich schon darüber nachdachte noch einmal zu klopfen, öffnete sich die Tür einen Spalt weit.Ich sah Henriettas strenges, so bekanntes Gesicht. Ich spürte ein strahlendes Lächeln in meinem Gesicht, das sie lediglich mit einem Stirnrunzeln quittierte.„Was tust du hier?", fragte sie barsch. Sie öffnete die Tür ein Stück weiter, aber nicht so weit, dass ich das Gefühl hatte willkommen zu sein.„Ich komme euch besuchen. Ich habe es bisher nicht geschafft und ..."„Du weißt, dass wir einen Besuchstag haben und du weißt auch, dass da nur die Familien erwünscht sind. Du hast hier nichts mehr zu suchen."Mein Lächeln verblasste.„Ich weiß. Ich dachte ..."„Du dachtest, ich würde eine Ausnahme machen. Es gibt keine Ausnahme! Du denkst doch nicht, dass du die Erste bist, die zurückkommt, um ihre Freundinnen zu besuchen?" Sie schnaubte. „Irgendwann kommen die Meisten her und wollen die Eine oder die Andere besuchen. Doch das ist verboten und das ist auch gut so. Es bringt nur Unruhe! Also. Verschwinde von hier." Sie wollte die Tür schließen, doch geistesgegenwärtig schob ich meinen Fuß in den Türspalt und lehnte mich mit der Schulter gegen die Tür. Bei ihren Worten war mir ein wenig übel geworden.Möglicherweise hatte ich vielen Mädchen, die irgendwann bestimmt wurden und uns nie besuchen kamen, unrecht getan. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass das vermutlich einer der Gründe war, warum uns damals allen strengstens verboten gewesen war die Tür jemals zu öffnen. Das war nur den Betreuerinnen erlaubt gewesen.Ich biss die Zähne zusammen, als Henrietta ihren Körper gegen die Tür stemmte, um sie zuzuschieben.„Sag mir wenigstens, ob Bl... D-281 noch hier ist. Wurde sie bestimmt?"„Ja", zischte Henrietta.Ich musste zugeben, dass ich meine Frage nicht besonders klar gestellt hatte.„Was denn? Ist sie noch hier?", fragte ich. Als sie nicht antwortete, sagte ich: „Bitte. Ich bin sofort weg, wenn ich es weiß."„Sie ist nicht mehr hier und jetzt geh. Leb dein Leben und blicke nicht zurück. Sei froh über deine neue Chance. Nicht alle von uns haben das Glück und können neu anfangen", sagte Henrietta und schloss mit Schwung die Tür, sobald ich meinen Fuß weggezogen hatte.Mir war nie aufgefallen, wie verbittert Henrietta war. Möglicherweise war sie nicht besonders glücklich über ihre Bestimmung.Ich hatte zwar inständig gehofft, Black hier zu treffen, aber ich hatte gewusst, dass die Möglichkeit bestand, dass es nicht so war.Deshalb hatte ich meinen Plan unabhängig von dem Ergebnis weitergesponnen und würde diesen jetzt auch weiterverfolgen.Mein Blick wanderte zum dunkler werdenden Himmel. Es sah nach Regen aus.Ich hatte heute noch einiges vor.Ich kannte leider mein genaues Ziel nicht. Belle hatte mir nie genau gesagt, wo sie mit unserem Vater wohnte.Ich hatte mir aus den wenigen Bemerkungen ihrerseits erschlossen, dass es nicht allzu weit von meiner neuen Wohnung entfernt sein konnte. Schließlich lief sie immer zu mir und ihrer Lauffaulheit nach zu urteilen, konnte ihr Haus oder ihre Wohnung nicht viel mehr als eine halbe Stunde Fußweg entfernt sein.Da sie von mir aus immer nach rechts abbog und erzählt hatte, dass sie sich auf dem Weg gerne ein Gebäckstück bei einem tollen Bäcker holte, der in der Nähe ihrer Wohnung sei, dachte ich, ich finge so an.Ich ging zu meiner Wohnung zurück, wandte mich nach rechts und suchte nach einem Bäcker. Irgendwann hatte sie den Namen erwähnt, doch ich konnte mich nicht mehr genau erinnern. Ich hoffte, es zu erkennen, wenn ich es sah oder hörte. Der Name fing mit M an. Das glaubte ich zumindest. Ji oder Je oder Ja, so schwer konnte das nicht sein.Nach etwa zwei Stunden ziellosem Umherirren, musste ich meine Einschätzung revidieren. Es war doch schwierig.Ich hatte einige Passanten angesprochen und nach einem Bäcker gefragt. Doch die einzigen Ergebnisse waren bisher ein Bäcker Farina und ein Bäcker, der keinen speziellen Namen zu haben schien.„Entschuldigung. Könntest du mir sagen, ob irgendwo ein Bäcker in der Nähe ist?", versuchte ich erneut mein Glück, dieses Mal bei einer jungen blonden Frau.Sie runzelte die Stirn.„Ein Bäcker? Nein." Ein Dankeschön auf den Lippen wollte ich mich schon abwenden, als die Frau weitersprach:„Aber einen Konditor kenne ich. Die Konditorei Yeast. Die ist da vorne. Noch ein ganzes Stück geradeaus und dort hinten an dem Schuhladen rechts."Yeast! Das war es. Ich dankte ihr überschwänglich und folgte der Wegbeschreibung. Tatsächlich war ich etwa 10 Minuten später vor dem Laden angekommen. Jetzt kam der schwierige Teil.Ich wusste von Belle, dass sie mit Vater in einer kleinen Wohnung in einem Haus mit drei anderen Familien wohnte. Sie hatte nie viel erzählt, aber die Geschichte mit dem bunten Fenster hatte ich nicht vergessen.Mein vager Plan sah vor, dass ich durch die nahe Umgebung der Bäckerei oder Konditorei, wie ich jetzt wusste, ablaufen würde und nach einem bunten Fenster Ausschau halten würde. Ich hoffte inständig, dass das Fenster von der Straße aus zu sehen sein würde. Ich hoffte vor allem, dass ich das Haus finden würde, bevor es zu regnen begann. Froh, dass ich den warmen Wollpullover über mein Kleid gezogen hatte, zog ich die langen Ärmel über meine Handgelenke, um meine Hände etwas zu wärmen.Um einen klaren Plan bemüht, entschloss ich mich Straße für Straße abzulaufen. Von der Hauptstraße ausgehend ging ich durch jede Seitenstraße. Dann zurück auf die Hauptstraße und von dort in die nächste kleine Seitenstraße. Ich hatte meine Schritte unwillkürlich immer mehr beschleunigt, da es immer dunkler wurde und das Wetter mehr und mehr nach einem Gewitter aussah. Ich wusste nicht genau, wie spät es war, aber die letzte öffentliche Uhr, die ich gesehen hatte, hatte gezeigt, dass der Nachmittag schon angebrochen war.Vielleicht würde das Gewitter zumindest den Vorteil haben, dass Belle durch den Regen möglicherweise ihren Aufbruch von der Arbeit etwas heraus zögerte. Ich wollte sie heute ungern treffen. Mein Blick wanderte schnell über die anliegend Häuser, während ich durch die Straße hastete. Kein buntes Fenster.Ich beschleunigte meinen Schritt noch etwas, als ich etwas hörte, was sich sehr nach einem entfernten Donnergrollen anhörte. Vielleicht sollte ich die Suche für heute aufgeben und an einem anderen Tag weitermachen. Ich bog auf die Hauptstraße und wollte eben nach rechts in die nächste Seitenstraße einbiegen, als ein Blitz über den Himmel zuckte und ich aus dem Augenwinkel auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einer kleinen Gasse etwas buntes aufblitzen sah.Abrupt wandte ich mich zu dem Aufleuchten, das ich schon nicht mehr sah. Ich hoffte inständig, es mir nicht eingebildet zu haben. Auf der Straße hasteten nur noch vereinzelte Menschen zügig zu ihren Zielen. Ein weiterer Blitz erleuchtete den Himmel, direkt gefolgt von einem lauten Donnern. Ich rannte los. Wenn ich das gesuchte Fenster nicht fand, würde ich zurück zu meiner Wohnung laufen, so schnell es ging.Aber diesen einen Versuch würde ich noch machen.Ein kalter Tropfen traf meine Wange.Ich lief weiter in die Richtung des bunten Aufleuchtens, das irgendwo von einem der zwei dunklen Häuser in der kleinen Gasse gekommen war.In diesem Moment schaltete Jemand – mein Vater? – das Licht in einem Zimmer ein und erleuchtete ein wunderschönes buntes Fenster. Ein erleichtertes Aufseufzen unterdrückend rannte ich zu der Eingangstür, während zwei weitere dicke Tropfen auf meinen Kopf trafen. Von einem Fuß auf den anderen tretend, stand ich unter einem winzigen Vorsprung vor der Tür, als der Himmel förmlich aufbrach und Regen den Dreck von den Straßen wusch. Einige versprengte Tropfen vom Boden abgelenkt trafen mich und ich betrachtete die vier Klingelschilder.Unendlich froh über die Nutzung von Vornamen auf Klingelschildern entdeckte ich Belles Namen neben dem Namen Vidar. So hieß er also. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, drückte ich auf die Klingel und drängte mich an die Tür, um den Regentropfen zu entgehen.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt