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„Weißt du, wer Hera ist?"

Ich hatte von ihr gehört, schüttelte aber den Kopf. Das war insofern unsinnig, da Joelles Kopf in meinem Schoß lag. Joelle hatte die Augen geschlossen, aber sie musste die Bewegung wahrgenommen haben, denn sie fuhr fort.

„Hera ist die Gattin von Zeus. Weißt du, wer Zeus ist?"

Da war wieder so ein Molekül von Überheblichkeit in ihrer Stimme. Natürlich wusste ich, wer Zeus war. So ein wenig zumindest.

„Zeus ist der oberste Gott der griechischen Mythologie. Und Hera ist seine Gattin. Sie ist auch seine Schwester, denn sie sind Kinder der Titanen Kronos... und den Namen der Mutter habe ich vergessen. Kronos heißt Zeit. Das Wort Chronograph kommt daher. Aber ich kenne ihn, weil er der Vater von Aphrodite ist. Weißt du, wer Aphrodite ist?"

„Auch eine Göttin", sagte ich knapp.

„Aphrodite ist die Göttin der Liebe. Man nennt sie auch die Schaumgeborene. Kronos schnitt seinem Vater, Namen habe ich vergessen, sorry, mit einer Sichel die Geschlechtsteile ab. Also den Schniedel. Und er warf ihn ins Meer. Der Samen vermischte sich mit dem Meer, schäumte auf und aus diesem Schaum entstammt Aphrodite."

„Okay."

Ich wusste zwar nicht, wo sie hinwollte, aber ich hörte ihr zu. Es wurde langsam kühl, Joelle war immer noch entblößt, aber sie hatte sich ihr Cardigan umgelegt. Trotzdem lugte ihr BH hervor und gab der ganzen Situation eine Intimität, die mir fast ein bisschen zu selbstverständlich war.

Libellen schwirrten über das Wasser, Vögel zwitscherten.

„Kennst du das Gemälde „Geburt der Venus" von Botticelli?"

Es sagte mir so spontan nichts, aber Joelle klärte mich trotzdem auf.

„Das ist dieses Gemälde, in dem die nackte Venus – Venus ist das römische Pendant zu Aphrodite – in einer Muschel aus dem Meer erscheint und von ein paar Engeln oder so empfangen wird. In Florenz kann man das Bild sehen. Ich war mit meinen Eltern da, als ich so acht oder neun war. Die ist so wunderschön, diese Frau. So wollte ich auch werden, so wunderschön. Ich habe wie sie einen weißen Teint und damals auch noch rötliche Haare. Aber so rot und schön wie ihre waren meine nie. Jetzt sind meine strohblond. Kann ich auch mit leben. Naja, jedenfalls kann man auf dem Gemälde auch Schaum sehen. Mein Vater hat mir das damals erklärt, als wir in Florenz das Gemälde gesehen haben."

Sie schwieg einen Moment, als dachte sie nach.

Ihr Gesichtsausdruck war vollkommen entspannt. Ich strich langsam über ihre Haare wie über die einer Geliebten.

„Aphrodite. Göttin der Liebe. Kann es einen tolleren Titel geben? Einen besseren Job als sich tagein tagaus mit der Liebe zu beschäftigen? Als kleines Kind wollte ich auch Göttin der Liebe werden. Aber wahrscheinlich ist das gar nicht so eine tolle Aufgabe, und Liebe führt ja auch hin und wieder zu Stress. Man sagt, dass Aphrodite den trojanischen Krieg ausgelöst hat. Sie, Hera und noch eine andere Göttin fragten Paris, wer die Schönste von ihren wäre, und Paris entschied sich für Aphrodite, weil die ihm die schönste Frau der Welt versprochen hatte. Das war Helena, und die war dummerweise schon vergeben. Also entführte Paris sie nach Troja, und da kam es dann zum Krieg."

Sie dachte wieder nach.

„Man würde vermuten, dass so eine Göttin der Schönheit es nicht nötig hätte, so eitel zu sein. Ich meine, die Göttin der Liebe. Die Frau mit dem geilsten Job der Welt hat Sorgen, nicht schön genug zu sein. Schon ironisch."

Sie dachte wieder einen Augenblick nach.

„Aber ich wollte eigentlich zu Hera. Hera ist die Gattin von Zeus. Sie hat nicht so einen richtig guten Ruf, glaube ich. Während Zeus überall rumhurt und Kinder in die Welt setzt, ist sie sauer, aber tut nichts. Was soll sie auch machen, Zeus ist unbesiegbar. Sie sieht nur zu und ist sauer. Aber sie verfolgt seine unehelichen Kinder. Ich glaube, sie stürzt Dionysos, den Gott des Rausches, in den Wahnsinn. Vielleicht haben ihn aber auch seine Drogen in den Wahnsinn getrieben. Ich weiß es nicht. Aber Hera ist eben auch stark. Sie hat Stolz, sie ist angesehen."

Sie verschwand für einen Moment wieder in ihren Gedanken und fuhr dann fort.

„Für mich bist du wie Hera. Du bist stark und unbeugsam. Du bist toll. Bei dir habe ich das Gefühl, dass dir niemand blöd kommt. Als ich dich das erste Mal gesehen habe, habe ich das schon gefühlt. In dem Musikladen, erinnerst du dich."

„Mmmhh", signalisierte ich Zustimmung.

„Du warst da so schön. Ich meine, ich weiß, dass ich manchmal schwierig bin. Es ist nicht einfach, die Tochter eines reichen Vaters zu sein. Mein Vater sagt immer, dass mit Reichtum Verantwortung verbunden ist. Man muss immer darauf achten, wie man ankommt, man darf den Familiennamen nicht beschmutzen, muss sich gewählt ausdrücken, darf nicht fluchen. Ich habe so eine strenge Erziehung genossen, das kannst du dir nicht vorstellen. Ich hatte Benimmtraining. Ich kann jeden Fisch der Welt auf dem Teller filetieren, ich habe gelernt, wie man Bücher auf dem Kopf balanciert. Ohne Witz. Ich habe mich immer unter Kontrolle. Es ist, als wären alle meine Muskeln ständig angespannt. Jeder erwartet etwas von mir, jeder will was von mir. Und immer muss ich allerlei Entscheidungen treffen. Ich muss ständig auf mich aufpassen, ich muss ständig darauf achten, wie ich nach außen wirke. Es ist einfach nur Stress."

Sie schwieg wieder. Ihre Stimme war angespannt geworden. Ihr Brustkorb hob und senkte sich dramatisch, dann atmete sie tief durch und entspannte sich.

„Und dann kamst du. Ich wusste direkt, als ich dich zum ersten Mal sah, wie stark du warst. Ich bin von so vielen Speichelleckern umgeben. Wenn ich die Diva gebe, dann machen alle den Bückling. Aber du nicht. Du hast mir Paroli geboten, du hast nicht nachgegeben. Ich bin manchmal ein richtiges kleines Miststück, ich weiß das, aber ich kann auch nichts dagegen tun. Ich stehe dann neben mir und sehe zu, wie ich andere Leute heruntermache. Es macht mir manchmal Angst, aber ich kann auch nichts dagegen tun."

Sie schwieg. Ich fröstelte ein wenig, und ich war mir nicht klar, ob es an der abendlichen Kühle lag oder den Abgründen, die sie mir vor sich ausbreitete.

„Als du mir die Gibson nicht verkaufen wolltest, da wusste ich, dass wir für einander bestimmt waren. Ich meine, wer tut sowas schon? Wer stellt seine Prinzipien über das Geld? Du warst so sicher und stark. Ich hatte das Gefühl, dass du immer weißt, was zu tun ist. Zumindest strahlst du das aus. Du wirkst, als hättest du alles schon erlebt, als wüsstest du in jeder Situation, was zu tun ist. Du wirktest, als könnte ich mich in dir verkriechen! So wie ich es jetzt tue."

Sprach sie wirklich von mir? Ich fand mich in ihren Ausführungen nicht wieder.

So wahnsinnig heroisch hatte ich das nicht gesehen. Ich fand, sie übertrieb in ihrer Schwärmerei. Ich sah mich jedenfalls nicht als so stark und souverän, und im Moment kam ich mir sogar ziemlich doof vor, denn was sie so alles wusste über Götter, das imponierte mir nun wieder, auch wenn immer wieder ihre Überheblichkeit durchschimmerte.

„Ich wusste da, dass ich dich wiedersehen wollte. Ich wusste damals schon, dass ich mich bei dir fallen lassen konnte und dass du meinen Bullshit nicht hinnehmen würdest. Als du mich dazu gezwungen hast, mich bei der Kellnerin zu entschuldigen, da war ich dir verfallen. Komisch nicht?"

Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Sie war mir verfallen nach nur zwei Begegnungen? Irgendwie machte mir das ein wenig Angst. Wir hatten uns erst wenige Male gesehen, und schon war sie der Meinung, dass ich ihre Rettung war.

Ich wusste nicht, ob ich eine griechische Göttin sein wollte. Eher nicht. So schnell zumindest nicht.

Wir schwiegen eine Weile.

Schließlich lenkte sie ein:

„Vielleicht übertreibe ich. Du bist sicher nicht meine Rettung, aber bei dir kann ich schwach sein. Das finde ich schön, und ich hoffe, dass wir noch viel miteinander machen.

Sie seufzte.

„Genug von diesen Gedanken. Ich könnte für immer hier liegen! Du nicht auch? Wenn du magst, dann streichele doch noch ein bisschen mein Haar." 

Die Violinistin und die Bassistin - eine lesbische LiebesgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt