Von Herz zu Herz

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Wind rauschte tosend in Sarahs Ohren, als sie im nächsten Moment ihre blauen Augen öffnete und um sie herum die grünen Blätter der Ahornbäume im Liegen wahrnehmen konnte, als sie plötzlich eine Stimme neben sich vernahm.
,,Nicht bewegen."
Auf die ruhige Männerstimme, die anscheinend am Kopfende von ihr stand, versuchte sie ihr Haupt in die Richtung zu strecken und bereute es sogleich wieder. Ein heftiger Schwindelanfall resultierte daraus und Sarah hatte das Gefühl, auf einem Karussell mit zu fahren. Mit letzter  Mühe konnte sie sich an beiden Seiten an etwas festklammern. War das vielleicht Holz ? Noch immer konnte sie nicht richtig erkennen, auf was sie eigentlich lag, aber eines war klar, der harte und  heiße Fußboden war es nicht. War es vielleicht eine harte Trage ? Doch weiter überlegen konnte sie nicht, denn etwas Kaltes traf ihre Stirn und die Blondine kam nicht drum herum befreit und erleichtert auf zu seufzen. Es tat unheimlich gut !
,,Prima. Zumindest scheint das schon Mal  ein wenig zu helfen. Ich bin gleich wieder zurück. Bleiben Sie bitte da liegen. Ihr Körper muss sich schonen!", kamen die Worte des Fremden sogleich aus seinem Mund und ein Gefühl von Heiß und Kalt durchflutete Sarahs Körper. Ob dies vielleicht vom Schüttelfrost herrührte  oder vielleicht doch von der Stimme des Fremden ?
Eine Stimme, die so sanft und einfühlsam und doch zugleich so männlich tief war ?
Irgendwie fühlte sich Sarah wie am Rande einer Klippe zu stehen. Schwankend und bei der erst besten Gelegenheit, ausversehen zu fallen. Was der Fremde wohl noch holen oder vergessen hatte ? Und… war sie eigentlich immer noch auf dem Friedhof hier, wo auch Jeff begraben lag ? Ein heftiger Kloß begann sich in ihrem Hals abzusetzen. Wie makaber es doch war, mitten auf jenen Platz umzukippen, wo doch eigentlich dutzende Tote lagen. Darunter auch ihr geliebter Jeff Perkins. Bei diesem Gedanken begannen bereits ihre Hände merklich und unkontrolliert zu zittern. Mit einem Schlag sah sie erneut ihren Traum aus der Nacht vor ihrem inneren Auge erscheinen.
Sie, die versucht hatte, Jeff am Wegfahren zu hindern und er, der ihr in dieser kalten Jahreszeit einen sanften Kuss auf die Lippen drückte. Dabei erschallten erneut seine Worte durch ihr Hirn.
>> Es war ein langer Abend und morgen Nachmittag wird er genauso schön wie die samtig blauen Flügel eines Schmetterlings, den du auf einer Rose in deinem Garten sitzen sehen wirst.<<
Ob es wirklich stimmen mochte? Aber dann musste sie doch erst Recht los !
Sarah atmete noch einmal tief durch, mobilisierte all ihre verbliebenen  Kräfte und stützte sich mit ihrer linken Hand an der Kannte sogleich ab. Mit einem Ruck saß nun Sarah. Allerdings bemerkte sie schnell, dass das Karussell sich nur noch mehr drehte und der zuvor noch kalte Gegenstand auf ihrer Stirn fiel zusätzlich neben ihr auf den Boden. Einige wenige Sekunden versuchte sie, sich wacker zu halten, aber ihre Kraft schwand sogleich und sie hatte das Gefühl, sich im freien Fall zu befinden, als sie plötzlich von jemandem aufgefangen und wieder hingelegt wurde.
,,Was sollte das denn  ? Sie sind noch viel zu schwach, um sich auf dieser Bank hinzusetzen! Hier trinken Sie das !", meinte nun bereits erneut die fremde Stimme an Sarahs Ohren und hielt ihr eine Wasserflasche vor ihrem Gesicht.
Kühl konnte Sarah erkennen, wie erste Perlen an der Außenseite des Gefäßes hinunter liefen. War sie etwa eisgekühlt ?  Am liebsten hätte die Blondine sofort zugegriffen, aber ihr Körper wollte ihr nicht mehr so recht gehorchen. Ohne ein Wort schob sich der Fremde einen Platz hinter Sarahs Kopf frei und seine Hände fanden neben Sarahs liegender Brust ihren Platz, die hingegen noch immer die gekühlte Flasche hielten.
,,Sie müssen bei der Hitze trinken ! Glauben Sie mir…Ich möchte Ihnen nicht zu nah treten, aber ich bin Arzt !"
Unheilvoll zogen sich Sarahs Augenbrauen leicht zusammen.
Hatte er da tatsächlich gesagt, er wäre von Beruf Arzt ? Doch eigentlich konnte es ihr ja auch egal sein. Die Wassertropfen glitzerten trotz des hier herrschenden Schattens so verführerisch. Sie brauchte es ! Mühevoll versuchte sie mit der rechten und zitternden Hand danach zu greifen, wobei ihre Hand jedoch sogleich wieder das Brett küsste. Es war zwecklos, sie war einfach  zu schwach ! Das erkannte anscheinend auch der Fremde, der ohne weiteres Zögern ihren Kopf auf seinen Schoß bettete, den Verschluss schnellstmöglich öffnete und ihr das volle Gefäß zum Mund hinhielt. Gierig begann Sarah zu trinken, bis sie fast über die Hälfte der gesamten 2 Liter Flasche geleert hatte. Mit einem Seufzer der Genugtuung schlug sie nun sanft mit der rechten Hand das Gefäß beiseite und der Fremde schloss es, ohne noch ein Wort zu sagen, wieder zu.
,,Danke.", begann Sarah nun leise zu hauchen, während der Wind weiter zärtlich ihre Stirn  und ihre Haut streichelte.
,,Hitzeerschöpfungen sind die meisten gesundheitlichen Probleme im Sommer. Das kann jeden treffen, selbst einer blonden Schönheit wie Sie auf dem Friedhof."
Bei diesen sachlich gesprochenen Worten begann Sarah rot im Gesicht zu werden. Ob der Fremde das wohl auch bemerkte ?
Doch kaum war dieser Gedanke in ihrem Kopf entstanden, griff eine Hand von der Flasche zu ihrer Stirn. Sarahs blaue Augen weiteten sich vor Verwunderung bei dieser Geste, doch der Fremde schien das völlig normal zu sehen.
,,Kein Zweifel, Sie haben noch immer Fieber. Schön liegen bleiben…Ich werde Ihre Stirn nochmal kühlen !"
Ein leicht gequälter Seufzer verließ Sarahs Mund, während sie die Nähe des Fremden kurz darauf nicht mehr spürte und die Schritte  sich lautstark von ihr entfernten.
Sowas verrücktes konnte auch nur ihr passieren ! Ob der Typ vielleicht dafür auch noch sein Honorar verlangen würde?
Diese Frage stellte sich Sarah, während ihr Schwindel durch das erstmals reichlich aufgenommene Wasser nachgelassen hatte. Unglaublich wie schnell man doch Dehydrieren konnte !  Schlussendlich wurden die Schritte auf dem Kies/Erd und Sandgemischboden  wieder lauter und schlussendlich landete ein erneut nasser Stoff wieder auf ihre Stirn, wobei Sarah erneut seufzte. Es tat einfach nur wunderbar gut.
,,Ah das ist wirklich schön.", begann Sarah leise zu säuseln, wobei der Mann ein klein wenig auflachte.
,,Das glaube ich Ihnen nur zu gern. Aber ich geb zu …Sie sind die erste Person, die ich jemals auf einem Friedhof behandelt habe."
Mit einem Ruck waren Sarahs Schwächeanfälle vorbei und erneut setzte sie sich ruckartig auf, wobei sie den Gegenstand mit einer Hand auf ihrer Stirn fixierte, bevor ihr  Blick sich nun messerscharf auf die fremde Person richtete, die sich bereits erneut neben sie gesetzt hatte.
,,Also doch…Sie haben mir nur geholfen, weil Sie ihr Honorar haben wollen !"
Abwehrend hob der Mann nur noch seine beiden Hände.
,,Hey, ich bin doch nicht Arzt geworden, um die Leute abzuzocken ! Ich habe diesen Beruf gelernt, um anderen zu helfen, und zwar aus Leidenschaft ! Allerdings…nicht aus solcher Leidenschaft, wie sie es gerade vorstellen."
Peinlich berührt senkte der junge Mann seinen kurzen Rotschopf und erst jetzt fiel es auch Sarah auf….Der Mann hatte zwar eine kurze und blaue Jeanshose, aber kein Oberteil mehr an ! Seine blanke helle Brust mit ein paar gekräuselten Brusthaaren zeichnete sich von seiner schmalen Taille ab.
Und…konnte Sarah da etwa eine gewisse Röte in seinem Gesicht erkennen ?
Unvermittelt begann sie den Gegenstand von ihrer Stirn zu nehmen und faltete ihn auseinander. Ihre Augen wurden immer größer, als sie aus dem weißen Stoff ein weißes kurzärmliges Hemd erkannte. War das etwa ? Ihre Überraschung sprach anscheinend schon so Bände und der Arzt konnte bereits aus den Augenwinkeln ihre Gedankengänge erkennen.
,,Ich wusste nicht, mit was ich sonst Ihr Fieber senken sollte Miss…"
,,Miss Atkins…Ich heiße Sarah Atkins. Und ich danke Ihnen dafür."
Ihre Worte waren deutlich sanfter geworden, erkannte sie doch die nette und selbstlose Hilfe. Das blieb auch dem Arzt nicht verborgen, der sie nun mit einem sanften Lächeln nun zu nickte, wobei ein schwarzes Band mit einem silbernen Puzzleteil um den Hals besser zum Vorschein kam.
,, Angenehm…mein Name ist Matthew Fritsch. Auch als Dr. Fritsch bekannt. Ich praktiziere in Hastings." 
,,Oh in Hastings…das sind aber schon einige Fahrstunden von hier."
Schwerfällig nickte daraufhin der Arzt.
,,Ja, das stimmt. Ich wohne ja auch in Hastings. Ich bin nur heute hergekommen, um ihr einen Besuch abzustatten."
,,Ihr ?"
Auf die neugierige Frage, griff der Arzt nach seiner Halskette und richtete sein Blick in die Ferne.
,,Meiner verstorbenen Frau Stephanie. Sie starb vor 3 Jahren bei einem Autounfall, als sie mit unserem zweijährigen Sohn zu ihren Eltern nach Brighton fahren wollte. Unser Sohn überlebte leicht verletzt, weil Stephanie sich geistesgegenwärtig im Augenblick des Todes über ihn auf den Beifahrersitz gebeugt hatte.
Als die Polizei mich benachrichtigt hat, bin ich schnell in mein Auto gesprungen und ins Krankenhaus gefahren. Aber da war sie bereits tot und mein Sohn hat mich nur noch stimmt angesehen. Kein schreien, kein Weinen, nur dieser leere Gesichtsausdruck. Die Sanitäter hätten gemeint, mein Sohn Ethan hätte im Auto seiner Mutter pausenlos geweint und als er aus dem Wrack geborgen war, kein einziges Mal. Sie meinten, er würde unter Schock stehen. Und auch jetzt redet er so gut wie gar nicht mehr. Und nächstes Jahr soll Ethan die Schule besuchen. Ich weiß auch nicht…manchmal wünschte ich mir, ich könnte das verlorene Puzzleteil ganz allein ersetzen, aber das schaffe ich nicht. Und indessen wird Ethan immer depressiver. Jeden Abend schaut er sich das Bild seiner Mutter an, ehe er ins Bett geht. Er leidet halt sehr. Es tut mir leid, dass ich Ihnen gerade solche Geschichten erzähle, zumal sie selbst schon krank sind.", entgegnete nun der Fremde und stand auf.
,,Aber nicht doch…auch ich hab hier jemanden durch einen Unfall verloren. Er war mein Verlobter und starb vor fünf Jahren. Ich hätte mir damals gerne Kinder gewünscht. Sie können sich glücklich schätzen, eines zu haben."
Der Blick des Mannes senkte sich erneut mit einem gespielten Lächeln im Gesicht
,,Tja…schön sind sie, aber was nützt es, wenn das Kind sich nicht in dieser Welt glücklich fühlt? Ist es nicht dann ein vergeudetes Leben, was man einem schenkt ?"
Aprupt stand nun auch Sarah mit dem weißen Hemd in ihren Händen auf.
,,Kein Leben ist sinnlos, wenn es aus Liebe geschieht ! Zumindest hätte das Jeff gesagt, wenn er nun an meiner Stelle Leben würde. Und….ja auch ich hab mich bis dato nie damit so stark mit seinem Verlust gequält wie heute. Mittlerweile habe ich aber bereits erkannt, dass alles irgendwo einen Sinn hat. Und…womöglich hat er auch mit dem Flügelschlag eines Schmetterlings etwas ganz anderes gemeint. Denn ist nicht die Liebe manchmal wie ein Schmetterling auf einer Rose ?"
Auf Sarahs standhafte Worte begann Mathew ihr einen ehrlichen Blick zu schenken.
,,Sie muss wahrlich der Himmel geschickt haben. Ich werde mir Ihre Worte zu Herzen nehmen und danke Ihnen Miss Atkins.Und bitte passen Sie gut auf sich auf."
Und damit spazierte der Arzt vom Friedhof, während Sarah an Ort und Stelle wie gelähmt stehen blieb. Mhm, irgendwie hatte der Mann etwas an sich, das sie wie ein Magnet anzog oder hatte sie noch immer so ein starkes Fieber ? Unbewusst fasste sie sich mit einer Hand an die Stirn, aber sie merkte selbst, das Fieber war bereits gesunken und schließlich begann sie sowohl auf das Hemd in ihren Händen, als auch auf die daneben stehende Wasserflasche zu starren. Oh nein ! Sie hatte ja noch immer seine Gegenstände!
Ohne noch länger zu zögern, schnappte sich Sarah auch noch die Wasserflasche vom Boden und lief los. Jedoch begann sie noch einmal unterwegs zu zögern, als sie an Jeffs Grab vorbei kam. Ein fast zärtlicher Blick huschte über seine Daten und über die Grabplatte an deren eine Seite sie das Schleierkraut sah und auf der anderen Seite nun die Vase mit den nun 5 eingesteckten orange/roten Rosen sah. Kein Zweifel, die musste eindeutig Matthew in das Gefäß gesteckt haben !
,,Tut mir leid, dass ich nicht länger bleiben kann Jeff…aber ich muss Jemanden noch etwas zurückbringen. Aber eines solltest Du wissen…lieben werde ich dich immer.", gab Sarah standhaft von sich und lief weiter in Richtung des Parkplatzes. Keuchend hielt sie schließlich am Rande der Tür an und musste enttäuscht feststellen, dass Mathew schon längst nicht mehr hier war. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihren Lippen, ehe ihre Nase in das nasse Hemd von ihm fand. Ein Geruch von Mandelöl und Schweiß, aber auch Wasser empfing sie und statt es gar widerlich zu finden, fand sie es recht angenehm. War sie etwa tatsächlich dabei, sich neu zu verlieben ? In Windeseile verscheute sie diesen Gedanken wieder.
Niemals ! Und dennoch manifestierte sich ein Gedanke ganz fest in ihrem Verstand. Sie musste ihn Wiedersehen, ihn Danken und ihm zumindest seine Sachen wieder geben, das war sie ihm zumindest schuldig…

Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt