Grabgeflüster

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Zwanzig Minuten später hatte sich Sarah schon längst umgezogen und trug ein schwarzes, ja gar schlichtes und langes Kleid mit einer silberfarbenen kleinen Brosche an ihrer linken Brust geheftet und ebenso gleichfarbige schwarze Schuhe, während sie ihre langen blonden Haare mit einem ebenso schwarzen Haarband zu einem Dutt hochgesteckt hatte, während im Radio der Song ,,Six Feet under " von Smash Into Pieces lief. 
Indessen war nun auch Karlotta in der Umkleidekabine angelangt und begann sich bereits das Kleid vom Oberkörper zu schälen. 
,,Ich bin wirklich froh, das Dave aufgetaucht ist. Und ich finde sogar, dass er Recht hat. Reden löst zwar nicht alle Probleme aber…"
,,Puh…Karlotta bist du bitte so lieb und schließt den Laden ab. Ich möchte noch schnell in den Blumenladen, bevor er in zehn Minuten schließt."
Leicht perplex und völlig überrascht  schaute Karlotta auf ihre Kollegin, die jedoch nur stumm und mit leicht wässrigen blauen Augen zu Boden schaute, wobei sie ihr  nun fast unbemerkt mit der rechten Hand die metallischen kleinen Schlüssel hin hielt.
,,Ehm ja…mach ich gern Sarah.", gab Karlotta zur Antwort und ergriff sie. 
,,Danke."
Und nach diesen fast schon melancholischen Worten schnappte sich Sarah ihre kleine weiße Tasche und spazierte mit schnellen Schritten nach draußen. Auf Daves netten Auf Wiedersehens Worten, hatte sie nicht mehr reagiert, war einfach nur um die nächste Ecke gebogen und hatte ungeschickt aus der Tasche ihren Autoschlüssel gefischt. Mit zittrigen Händen und einem tiefen ein und Ausatmen, drückte sie auf den Öffnungsknopf vor dem weißen Jaguar SUV E-Pace und kaum dass es klickt machte, war sie auch schon eingestiegen. Warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz und startete den Motor. Auf der Anzeigetafel erschien sogleich die Uhrzeit 13.23 Uhr. Sie hatte nur noch 7 Minuten, ehe der Blumenladen schloss ! Willkürlich wischte sie sich die kleinen Tränen aus dem Gesicht. Was war bloß heute mit ihr los ? Diese Frage stellte sie sich innerlich wirklich. Immerhin war heute doch noch nicht einmal Jeffs Todestag ! Aber warum fühlte sich dieser Traum dann immer noch so real an ? Es war doch bloß ein Traum!!!
Leicht wütend, schlug die Blondine deshalb mit der rechten Hand auf das Lenkrad. Diese kurze Vibrierung, hatte sie sogleich ins Hier und Jetzt wieder befördert und gab ihr erneut Kraft. Ohne noch einmal zu überlegen, schaute sie in den Rückspiegel und fuhr los, als niemand mehr die Seitenstraße befuhr.
In hundert Metern und fünf Ecken weiter, hielt Sarah wieder an. Stieg mit samt Tasche aus und überquerte die leicht holprige Straße zu einem cremefarbenen Blumenpavillon wo bereits Rosen, Nelken, Lilien und Chrysanthemen rechts und links in Blumenkübeln neben der Tür ihren Platz hatten. Mit einem kleinen, lieblichen  Klirren eines Windspiels, war Sarah mit einem keuchenden Laut eingetreten und schaute sich um.  Schleierkraut, Gerbera, Ranunkeln , weitere gefüllte und zweifarbige Rosen in den Farben orange und Rot, sowie auch lilafarbener  Lavendel, als auch duftende Fliederzweige steckten in kleinen und großen Vasen. Der Duft betörte sie und obwohl sie sooft schon hier war, hatte sie das Gefühl, als wäre es das erste Mal.
,,Ah Miss Atkins…schön Sie wiederzusehen. Was kann ich Ihnen denn diesmal anbieten ?" 
Wie aus ihrer Trance herausgerissen, fiel ihr Blick zur beigen Theke auf eine schlanke Frau mit schulterlangen blonden Haaren und mit einer blauen Strähne im Haar, die sie freundlich anlächelte und eine dunkelgrüne Bluse trug, der Rest des Unterkörpers, verdeckte die Theke. 
,,Ich hätte gerne die orangeroten Rosen bitte. Davon allerdings fünf Stück!", platzte es einfach hektisch aus Sarahs Mund heraus und trat sogleich auf die Verkäuferin zu, wobei ihr eine kleine blonde Strähne in ihre Augen fiel und ihre Sicht einschränkte. Unbeirrt davon stolzierte Sarah weiter und wischte sie sich schließlich nur flüchtig aus dem Gesicht. Indessen hatte die Verkäuferin sich schon längst fünf der 20 Rosen aus der transparenten Vase herausgezogen und umwickelte diese gerade mit Strickband, doch trotz der Tätigkeit die sie vollzog, konnte sie Muss Atkins Angespanntheit greifbar in der Luft flimmern sehen. 
,,Was ist los Sarah ? Diese Blumen kaufst du doch nur zu einem bestimmten Anlass und soweit ich weiß liegt dieser Tag doch noch in weiter Ferne. Also was ist los ?", fragte die Verkäuferin nun sachlich. Im ersten Moment biss sich die Blondine mit den Zähnen auf ihre Unterlippe.
Eigentlich wusste sie doch selbst nicht was mit ihr los war, aber dieser Traum…
Ein gequälter Seufzer verließ ihre Lippen. 
,,Ich weiß auch nicht Nina…Ich wollte einfach nur gleich spontan Jeffs Grab besuchen und da dachte ich, ich nehme einfach ein paar der Rosen mit."
Langsam nickte die angesprochene Floristin, auch wenn sie wusste, dass da noch mehr an der Geschichte dran sein musste. Sie kannte Sarah schon seit über 10 Jahren und kannte auch Jeff, der ihr zum ersten Mal bei ihrem Eintritt hier Blumen geschenkt hatte. Nina konnte sich gut an diesem Frühlingstag erinnern. Sarah in einem blütenroséfarbigen Kleid und naturbelassenem Basthut mit roter Schleife und Blümchen verziert auf dem Kopf und Jeff in einem eleganten Stil eines weißen Hemdes mit legerer  schwarzer Hose und schwarzen Schuhen. Damals hatte Jeff Sarah lächelnd gefragt, welche Blumen sie gerne haben wollte. Und Sarah hatte sich verspielt umgesehen und sich schließlich für fünf gefüllte leuchtend rot/orangefarbene Rosen entschieden. Es war wie ein verträumter Sommertag zweier Verliebter im Frühling gewesen, dessen Augenblick des Glücks Nina beiwohnen konnte.  Romantisch, Idyllisch. Ja, einfach nur perfekt !  Aber heute…Nina hatte auch leider Sarahs Trauer sehen müssen. Als sie über Umwege vor 5 Jahren durch Karlotta von Jeffs tödlichen Unfall erfuhr. Es war unfassbar, wie schnell sich ein Schicksal eben ändern konnte.  Aber warum war Sarah nun an so einem unbedeutenden Tag niedergeschlagen ? Das war etwas, was  sie nicht ganz verstehen konnte. 
Sorgsam verpackte schließlich Nina die Blumen in hellgrünes Papier und übergab sie Sarah. Sie bedankte sich, bezahlte und verließ kommentarlos den Laden. Nina hingegen blieb stumm, aber mit einem besorgten Gesichtsausdruck zurück, während sie versuchte, ihre Utensilien zu reinigen und dann zu verstauen. Wie konnte sie ihr denn bloß helfen ? 
Indessen war Sarah erneut wieder ins Auto gestiegen, ließ die Blumen und ihre Tasche auf den Beifahrersitz legen, bevor sie erneut den Motor startete, welcher sanft wie eine Katze schnurrte. Noch immer lag ihr Herz so hart wie ein Stein in ihrem Herzen, getrieben vom Wunsch, zum Friedhof ihres Liebsten zu fahren. Wie eine unsichtbare Melodie, die die beiden miteinander vom Himmel zur Erde rief und sie explizit verband. Es war ein komisches Gefühl. 
Nach 10 weiteren Minuten parkte Sarah nahe des Friedhofsgeländes, verließ mit ihrem Blumenstrauß den Wagen, schloss ihn ab und schritt durch die metallische und grüne Tür. Muffige und frische Erde empfing sie, während der Wind sanft in den dunkelgrünen Blättern der Ahornbäume verfing und diese zum Schaukeln brachte. Teilweise schloss Sarah beim Gehen die Augen. Statt das Rauschen der Blätter, hatte sie das Gefühl, das Rauschen des Meeres zu hören. Stark und kühn wie einst die Klippen an der Nordsee. Wie jener Ort, an dem sie und Jeff einmal Urlaub gemacht hatten. Hell und klar das gräuliche Gewässer vor ihnen, das Geräusch der rum her fliegenden Möwen auf der Suche nach Fische und am Strand die vielen kleinen Muscheln, die man in der Nähe der blau/weißen Strandkörbe finden konnte. 
,,Siehst du…dies ist hier der Ort, wo ich als Kind aufgewachsen bin, bevor ich mit meinen Eltern zurück nach England zog.  Man sagt...Das Meer sei unergründlich und birgt eine Menge Geheimnisse, aber ich glaube, das Meer bietet einem eher die Chance zur unbändigen Freiheit."
Voller Panik begann nun Sarah abrupt stehen zu bleiben und ihre Augen aufzureißen. Hatte sie tatsächlich Jeffs Stimme gehört, als sie an ihren gemeinsamen Strandurlaub gedacht hatte? Ein leichtes, aber schiefes Lachen entfuhr ihrem Mund. So ein Quatsch ! Anscheinend war sie nun selbst knapp daran verrückt zu werden. Und bildete sich schon Dinge ein, die nicht da waren. Vorsichtig begann sie daraufhin, ihre linke freie Hand an ihre Stirn zu führen und musste sich selbst eingestehen, dass sie ziemlich warm war. Ein zärtliches Schmunzelnd legte sich auf ihren Lippen. 
Sie war nicht verrückt, das musste wahrscheinlich nur vom Fieber her kommen. Nun ja…das Leben konnte ja nicht nur aus Gesundheit bestehen. Schließlich schlenderte sie weiter, passierte einen Grabstein nach den nächsten bis sie vor einer grauen Grabsteinplatte stand, auf dem eine eingefasste leere Blumenvase und ein kleiner Blumentopf mit Schleierkraut standen, während in  goldener Schrift der Name Jeff Perkins mit samt Geburts und Sterbedaten eingraviert war. 
,,Hallo Jeff.", sprach Sarah sanft zur Grabplatte und beugte sich schließlich hinunter um die Plastikvase aus der Halterung herauszunehmen, legte zeitgleich die Rosen auf der Platte ab und ging schließlich zum Brunnen. Immer stärker fühlte sie nun, dass ihre Sicht mittlerweile immer verschwommener wurde. 
Hatte vielleicht dieser Traum, dann der Kindergeburtstag und auch Karlottas Zusammenbruch auf ihrer Arbeit seelische Spuren hinterlassen ? Plötzlich fühlte Sarah sich komplett kraftlos, kam ins Stolpern und lag schlussendlich flach auf dem harten Steinboden, während die Vase einige Meter weiter rollte. In Windeseile bemerkte sie nun auch, wie ihr Herz bis zum Hals hinauf klopfte. Irgendetwas stimmte nicht. Wurde sie etwa wirklich ernsthaft krank ? Das konnte doch nicht sein ! Kurz darauf versuchte sie aus eigener Kraft aufzustehen, aber ihre Hände und Beine gaben sogleich nach und sackten erneut auf dem warmen Boden zusammen. Was für ein mieser Tag, dachte Sarah und hätte sich am liebsten eine Ohrfeige für ihre momentane Schwäche gegeben, als plötzlich wie aus dem Nichts eine Hand in ihr Sichtfeld erschien. Verwundert begann Sarah ihren Kopf nach rechts zu heben und erblickte undeutlich einen Mann.
,,Kommen Sie…ich helfe Ihnen.", sprach er und Sarah ergriff seine ausgestreckte Hand. 
Doch kaum stand Sarah wieder auf ihren eigentlichen Beinen, durchfuhr sie ein unglaubliches Zittern. Was auch dem Fremden nicht verborgen blieb. 
,,Alles in Ordnung Miss ? Sie haben ja Fieber !", waren die einzigen Worte, die Sarah verwaschen an ihren Ohren von diesem Fremden noch wahrnahm. Mit letzter Kraft versuchte Sarah noch einmal ihre Sehkraft zu schärfen und sah vor sich das Gesicht von Jeff, der sie besorgt, aber liebevoll anssah. 
,,Jeff…" waren daraufhin ihre letzten und leise gemurmelten Worte gewesen, ehe um sie herum nun alles Schwarz wurde. Wie ein tiefer Fall und doch mit der letzten Gewissheit, dass sie festgehalten wurde. Oh Jeff…

Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt