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Clarissa sprach am nächsten Tag mit dem Direktor und vereinbarte, dass Gwen die kommenden Wochen zu Hause bleiben konnte. Zumindest so lange, bis sie wieder vollständig geheilt und hoffentlich der Königsclan Alpha zurück zu dem Kronprinzen gereist war, konnte die junge Frau nun aus der Sicht-, und vor allem der Reichweite des blonden Brutalos bleiben. Die erste Woche verbrachte sie fast ausschließlich im Bett, schlief viel und gönnte ihrem Körper Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen. Während dieser zwar allmählich das Trauma der letzten Tage verarbeitete, schaffte ihr Kopf es nicht. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um Josh. Welchem Clan war er zugesprochen worden? Waren sie dort gut zu ihm? Und würde ihr über alles geliebter bester Freund in seiner ersten Hitze als beanspruchter Omega bereits geschwängert werden? Gott, die Welt war vielleicht ungerecht! Wegen ihr war er nun für immer unfrei.. und ihr schlechtes Gewissen wurde von Tag zu Tag schwerer.
Interessanterweise ließen ihr Onkel und ihre beiden Cousinen sie größtenteils in Ruhe. Nach der ersten Woche beteiligte Gwen sich wieder am Familienleben, bereite das Abendessen zu und vollzog ihre tägliche Putzroutine.
Zwar hatte Bianca sich wie befürchtet kurz nach dem Vorfall in ihrem Zimmer aufgebaut und sie angeschrien, weil sie es gewagt hatte Tim anzugreifen. Glücklicherweise hatte Clarissa ihre Tochter am Nacken aus Gwen's Raum gezerrt und ihren Töchtern verboten, diesen wieder zu betreten, solange ihre Cousine noch so angeschlagen war.
Als die zweite Woche anbrach, begann Gwen Spaziergänge zu machen. Zunächst nur um das Haus herum und sie legte sich immer wieder auf ihre Schmetterlingswiese und sprach mit den Insekten, dann jedoch begann sie auch den Wald hinterm Haus zu erforschen. Es war ein wunderschöner, gesunder Mischwald mit riesigen Eichen und Buchen, die sich mit kleineren Kiefern abwechseln.
So kam es, dass sie auch heute wieder durch den Wald schlenderte. Noch waren ihre Bewegungen langsam und gemessen, doch die frische, klare Luft und das leise Zwitschern der Vögel kombiniert mit dem Rauschen des Windes in den Bäumen verschaffte ihr eine Leichtigkeit wie schon seit Tagen nicht mehr. Wenn jetzt nur noch Josh bei ihr sein könnte, dann wäre sie tatsächlich glücklich. Sie hatte mehrfach versucht ihn zu kontaktieren, aber auch wenn die Hitze mit Sicherheit schon gebrochen worden war, würde der Alphaclan ihn noch nicht aus den Augen lassen. Leise seufzte Gwen bei dem Gedanken, die restliche Schulzeit ohne ihren Freund durchstehen zu müssen... Die Wahrscheinlichkeit, dass Josh wieder zurückkommen durfte um sein Studium zu vollenden, tendierten eher gegen null.
Hatte ein Clan einmal einen furchtbaren Part gefunden, so ließ er diesen nie wieder aus den Augen und nur in den ältesten Fällen aus dem Nest raus. Unter ihren Füßen raschelte leise das Laub und der schwere Duft von Harz und feuchtem Gestein lag in der Luft. Das Rauschen wurde lauter und lauter und dann stand Gwen mit einem Mal auf einem felsigen Vorsprung über einem schnell fließenden Fluss. Etwa zweihundert Meter weiter Flussabwärts ließen Stromschnellen das Wasser noch stärker aufwirbeln und ganz am Ende ihrer Sichtfeldes konnte Gwen eine scharfe Kante ausmachen, die auf ein Wasserfall hindeutete. Obwohl das Donnern des Wassers nah zu ohrenbetäubend war, strahlte der Ort eine leidenschaftliche, wilde Schönheit aus, die einen gewissen Frieden in Gwendolyn auslöste. Langsam setzte sie sich auf die Felskante und ließ die Beine baumeln. Der Wind frischte auf und blies ihr die kurzen, roten Locken ins Gesicht... Hier ließ es sich doch aushalten! Das nächste Mal würde sie einen kleinen Proviantkorb mitnehmen, dazu ein Buch und dann konnte sie den ganzen Tag hier verbringen...

Dank der Salbe, die ihr Krankenschwester Mathilde buchstäblich aufs Auge gedrückt hatte, war die Schwellung längst Geschichte und auch das tiefschwarze Hämatom hatte sich zu einem gelblichen Farbton abgeschwächt.
Gwen wusste, dass sie sehr wahrscheinlich nächste Woche wieder zurück in die Schule musste und alles in ihr drehte sich um bei dem Gedanken, das verhasste Gebäude erneut zu betreten. Am liebsten hätte sie eine schwere Eisenstange mitgenommen und ALPHA Tim auf Sicht das nicht vorhandene Gehirn aus dem Schädel geknüppelt.
Aber sie erinnerte sich nur zu gut an die Drohung von Tjorben.
Diesem widerlichen Schlägertyp wollte sie nun wirklich nicht mehr begegnen!
In Gedanken versunken sah sie zu, wie die Sonne langsam tiefer sank und als die Dämmerung sich über den Wald legte, schrak Gwen hoch.
Miiiist!
Sie hatte die Zeit völlig falsch eingeschätzt!Hastig stand sie auf und joggte durch die Bäume zurück. Als das Haus ihrer Verwandtschaft in Sicht kam, presste Gwen keuchend die Hände auf die brennenden Seiten.
‚Ganz toll, da hat Frau gerade mal zwei Wochen keinen Sport mehr gemacht und schon war die ganze Kondition futsch!' dachte sie angesäuert und bemühte sich möglichst tief und gleichmäßig zu atmen.
Kaum hatte sie sich etwas beruhigt, hastete sie zur Hintertür, die in die Küche führte. Rasch trat sie ein und flüsterte ihrer Tante zu: „Tut mir leid! Ich hab irgendwie die Zeit verloren..."
Clarissa nickte nur mit zusammen gepressten Lippen und zog Gwen rasch an sich heran.
„Es sind Alphas vom Königsclan im Haus! Verhalte dich so unauffällig wie möglich und iss heute bitte in deinem Zimmer!!"
Angst durchzuckte die Epsilon, rein und unverfälscht und ihr Herz begann zu rasen. Ihre blauen Augen verdunkelten sich und die Atmung wurde hektisch.
„Schsch... ruhig, Liebling! Ich mach das hier schon und bring dir gleich was. Lauf! Jetzt!!" Sanft aber bestimmt schob Clarissa die Nichte in Richtung ihres Schlafzimmers und Gwen zögerte nicht lange.
Panisch stürmte sie los und lehnte sich zitternd  von innen gegen die geschlossene Tür.
Verdammt... sie war so nutzlos! Nicht mal ihre eigene Furcht bekam sie in den Griff! Wütend über sich selbst wischte sie sich eine Träne fort, dann huschte sie ins Bad und kühlte ihr glühendes Gesicht unter dem kalten Wasser. Gwendolyn fuhr sich mit den nassen Händen durch die Haare und betrachtete ihr Spiegelbild.
Gut, sie hatte vor gar nicht all zu langer Zeit wesentlich schlimmer ausgesehen. Sogar die kurzen Haare mochte sie jetzt irgendwie. Zumindest waren sie wesentlich pflegeleichter als die fast hüftlange Mähne vorher...

Die Epsilon merkte, wie die Panikattacke langsam nachließ. Leise seufzte sie, trocknete sich das Gesicht ab und cremte es nochmal mit Mathildes Salbe ein. Dann wusch sie sich die Finger ab, putze sich die Zähne und ging zu ihrem Schrank. In dieser Nacht war ihr nach einer Schlafkleidung. Normalerweise bevorzugte Gwen es nackt zu schlafen. Besonders in der Zeit der Hitze konnte sie das Gefühl von Stoff auf ihrer Haut nicht ertragen.
Aber heute, mit einer Horde fremder Alphas im Haus, von denen einer bereits handgreiflich geworden war, hatte die junge Frau das Bedürfnis nach einer Schutzschicht, selbst wenn diese nur aus etwas Baumwolle bestand.
Plötzlich müde geworden, kuschelte sie sich in ihre Decken und blinzelte zum Nachtisch. Beim Anblick des Fotos von ihr und Josh traten dem Rotschopf Tränen in die Augen. Gwen streckte die Hand aus und strich über das Abbild ihres besten Freundes. „Gute Nacht, Joshi... ich hoffe so sehr, dass ich dich irgendwann wiedersehen darf!!" flüsterte sie, dann schlossen sich ihre Arme um eines der Kissen und langsam dämmerte sie ins Traumland hinüber.
Sie bemerkte nicht, wie sich ihre Tür öffnete und ein großer, schlanker Mann mit langen schwarzen Haaren und dunklen Mandelaugen ins Zimmer kam.
Alpha Kai aus dem Königsclan betrachtete die schlafende junge Frau mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. Dann atmete er tief ein um ihren Geruch zu inhalieren, lächelte leicht und verließ den Raum wieder.

In einem Feld voller Schmetterlinge Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt