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Das leise Rascheln von Flügeln weckte Gwendolyn.
Schläfrig blinzelte sie in die tief stehende Sonne und gähnte. Eigentlich hatte sie die Augen nur kurz ausruhen wollen, wirklich nur kurz... die letzte Hitzewelle ihres „monatlichen Übels" war heute Morgen angeklungen und Gwen fühlte sich immer noch wackelig und mitgenommen. Wo ihre Cousinen - so wie jede Delta - einfach nur ihre Tage bekamen, natürlich mit den üblichen Hormon bedingten Schwankungen im Gemütszustand hatte Gwen nicht so viel Glück. Oh, nein.. sie hatte das absolute Hauptlos in Sachen Arschkarte gezogen. Sie war als Epsilon zur Welt gekommen - die seltenere Unterart der bereits extrem seltenen Omegas. Und als solche hatte sie noch nicht mal das Glück nur zwei Hitzezyklen pro Jahr zu bekommen.
Oh... nein.
Sie bekam diesen Schrott monatlich.
Jeden verschissenen Monat!
Eine Woche mit Krämpfen, als ob ein glühendes Messer in ihrem Unterleib wütete, Panikattacken, Ohnmachtsanfällen - mindestens einer pro Tag und Fieber, dass mühelos die 40Grad Marke knackte. Oder anders ausgedrückt: ihr ging es so richtig, richtig beschissen! Und damit sie nicht auffiel, musste sie die Hitze durchstehen, ohne sich etwas anmerken zu lassen... denn die Alternative wäre sich im Zentrum eines Alphaclans wiederzufinden und bis an das Ende ihres Lebens Kinder zu werfen.
Nope!
Nicht mit ihr!
Irgendwann würde sie sich einen niedlichen, netten und vor allem harmlosen Beta-Mann suchen, ein/zwei Babies in die Welt setzen und dann in Frieden alt werden.
Wohlgemerkt: irgendwann!
Sie war gerade mal 19 und wollte noch einiges erreichen, bevor sie sesshaft werden würde. Und bis dahin hieß es, unauffällig bleiben! Nicht nur was die Alphas anging... auch ihrer Familie, abgesehen von ihrer Tante Clarissa wollte sie nicht wirklich aufs Auge drücken, dass sie eben nicht eine gewöhnliche Delta war.
Die Folgen wären wirklich fatal...

Gwen richtete sich mühsam auf und betrachtete die gut 200 Schmetterlinge, die auf der kleinen Blumenwiese hinter dem Gartenschuppen herumflatterten. Sie liebte diese Insekten. Ihre Farbenpracht, das leise schuppige Rascheln der Flügel und das Mystische, dass mit ihnen in Verbindung gebracht wurde. Clarissa hatte ihr einmal gesagt, dass Schmetterlinge die Seelen der Verstorbenen waren, die hier über ihre Liebsten wachten.
Das war an Gwens vierten Geburtstag gewesen und hatte die Kleine sehr getröstet, als diese totunglücklich nach ihrer Mutter geweint hatte. Adriana war die Zwillingsschwester von Clarissa und eine Omega gewesen, die bei der Geburt ihrer einzigen Tochter gestorben war. Für ihre Tante war es selbstverständlich, die Kleine bei sich aufzunehmen und ihr die gleiche Liebe zu schenken, die sie auch für ihren Zwilling gehabt hatte.
„GWEN!!! WO STECKST DU SCHON WIEDER?"
Ouch! Bianca... eine ihrer beiden Cousinen. Die zwei waren ein Jahr älter und schikanierten Gwendolyn wo sie nur konnten. Man konnte noch nicht einmal sagen, dass die beiden dumm wären.
Ganz im Gegenteil... Tatsächlich waren die Zwillinge hoch intelligent, taten aber gerne so als hätten sie den IQ eines Meter Feldweges. Eine bewährte Strategie, um Männer im allgemeinen nicht zu verschrecken, da diese sich gerne überlegen fühlten und dass nicht nur im körperlichen Sinne.
„GWEEEEEN!"
Genervt stand die junge Frau auf und klopfte sich das Gras von der Hose. Einen Moment lang war ihr schwindelig... sie hatte eindeutig zu wenig getrunken. Im allgemeinen brauchten Omegas und Epsilons fast doppelt so viel Wasser wie der Rest der Bevölkerung. Um nicht aufzufallen tranken aber alle Os und Ees weit unter ihrem tatsächlichen täglichen Bedarf.
„GWEN! SCHWING DEINEN ARSCH HER!"
Seufzend machte Gwen sich auf den Weg um nachzuschauen, womit das Zweiergespann diesmal aufwarten würde.
Bianca stand in der weit geöffneten Terassentür, die Fäuste in die Hüfte gestemmt und tappte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.
„Na, endlich! Beeil dich gefälligst! Dad kommt in ein paar Minuten und das Abendessen macht sich schließlich nicht von allein!"
Gwen verdrehte die Augen und murmelte: „Es ist ja nicht so, als könntet ihr arroganten Mistbratzen nicht wenigstens einmal den verdammten Tisch selber decken!" Ihre Cousinen und ihr Onkel hatten, als die Zwillinge noch klein waren eindeutig zu oft diesen alten Trickfilm namens Cinderella gesehen. In der Zeit vor dem Umbruch waren Filme noch als am Fließband produziert worden. Doch in den letzten fünfhundert Jahren gab es keine diesbezügliche Unterhaltungsindustrie mehr. Lediglich ein paar hundert Filme und einige Serien waren konserviert und archiviert worden. Vor gut vierhundert Jahren wurde eine Technik entwickelt, um diese Relikte wieder nutzbar für die Bevölkerung zu machen.
„Wie war das?" schnappte Bianca und sah nun aus wie eine dieser französischen Bulldoggen, die Gwen neulich in dem Buch über ausgerottete Arten gesehen hatte. „Gar nichts... wollt ihr etwas bestimmtes heute?" antwortete die junge Frau und zwängte sich an ihrer Cousine vorbei. Dies verpasste Gwen einen Schups, so dass sie vorwärts taumelte.
„Einen Salat! Mama hat die Sachen besorgt... liegen in der Küche schon auf der Arbeitsplatte."
‚Na, klar doch, eure königliche Hoheit!' dachte die Epsilon müde.
Vielleicht könnte Gwen ja auch noch schnell eine ganze Kuh grillen! Zumindest, wenn sie mal eben in die Vergangenheit reisen könnte, da Kühe ebenfalls ausgestorben waren.
„Hallo, Schätzchen... hast du dich etwas ausruhen können?" Ihre Tante sah mit einem liebevollen Lächeln auf, legte das Messer zur Seite, mit dem sie gerade Tomaten geschnitten hatte und zog Gwendolyn in die Arme. Ganz leise flüsterte Clarissa: „Hast du genug getrunken, Liebling?" Müde schüttelte die junge Frau den Kopf und ihre Tante schob sie resolut zu einem der Hocker an der Kücheninsel. Kurz sah Clarissa sich um, dann goß sie ein großes Glas Wasser ein und stellte es vor ihre Nichte. „Trink! Schnell..." Das musste sie ihr nicht zweimal sagen. Gierig stürzte Gwen das kühle Nass hinunter und leerte auch das zweite Glas, welches die Tante ihr hinhielt in Windeseile. Seufzend fuhr sie sich mit dem Ärmel über den Mund und lächelte die ältere Frau dankbar an. Dann ging sie rasch zum Spülbecken und wusch das Glas aus. Nachdem es abgetrocknet wieder im Küchenschrank stand trat Gwen zu ihrer Tante und half das Gemüse für den Salat kleinzuschneiden.
„Wie war die Schule heute?"
Clarissa gab die gehackte Petersilie in die große Schüssel und vermischte sie mit den gebratenen Pilzen, Tomaten, Gurken und gerösteten Pinienkernen. Die Ernährung der Bevölkerung war größtenteils vegetarisch, lediglich die Alphas hatten permanenten Zugang zu Fleisch, da eine reine pflanzliche Ernährung ihre riesigen Körper nicht mit ausreichend Protein und Energie versorgen konnte.
„Wir haben einen neuen Direktor bekommen. Er ist mir nicht geheuer!" Ihre Tante sah alarmiert auf sie hinunter. „Was meinst du damit?" Gwen zuckte mit den Achseln, bückte sich und holte das Geschirr aus dem Unterschrank um den Tisch zu decken.
„Ach, keine Ahnung.. ist nur so ein Gefühl.."
Clarissa kramte nachdenklich in der Schublade neben sich um an das Besteck zu kommen.
„Liegt es vielleicht daran, dass er ein Alpha ist?" fragte sie sanft und Gwen presste die Lippenfest zusammen.
„Kann sein," nuschelte die junge Frau und begann den Tisch zu decken.
Die ältere lachte leise, dann sah sie ihre Nichte wieder besorgt an. „Du hast aber das Supress genommen oder?"
Gwendolyn griff in die langen kupfernen Haare und band sie rasch zu einem Zopf.
„Natürlich hab ich das. Allerdings war es die letzte Tablette... Für nächsten Monat bräuchte ich neues.."
Clarissa ballte die Fäuste und stöhnte leise. „So ein Mist! Im Krankenhaus haben wir gerade eine Inventur gehabt. Da kann ich im nächsten Monat nichts entwenden... und von unserem Konto kann ich kein Geld nehmen. Hendrik kontrolliert im Moment alle Ausgaben."
Als sie die Sorge und Furcht in den Augen ihrer Nichte sah, sagte sie rasch: „Oh, nein. Schatz... ich find eine Lösung! Hab keine Angst!! WIR finden schon einen Weg!!!"
Gwen nickte zitternd und legte das Brot in einen Korb und stellte es zusammen mit der Sonnenblumenbutter auf den Tisch.
Schritte polterten und die Tür flog schwungvoll auf.
Ihr Onkel Hendrik, Hausherr, Beta und Großkotz der Superlative war Zuhause.... welch übergroße Freude aber auch!

In einem Feld voller Schmetterlinge Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt