Es neigt sich dem Ende

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Es war so vertraut. Der Geruch des Pergaments, das Rascheln der Seiten. Die Landschaft vor dem Fenster und die Bank unter ihr.
Es war merkwürdig, dass sie nur noch wenige Wochen hier in Hogwarts verbringen sollte. Die Schule war zu so einem festen Bestandteil ihres Lebens geworden, dass es für sie fast undenkbar war, dass sie diese Mauern bald für immer verlassen sollte.
Aber sie wusste, wie gut ein Leben außerhalb Hogwarts möglich war. Ron und Harry lebten es ihr vor. Sie hatten sich nach langem Überlegen dagegen entschieden, nach dem Krieg das Schuljahr zu wiederholen. Gut, sie wollte ehrlich sein, Harry hatte lange überlegt, Ron eher nicht. Die beiden würden bald schon ihr erstes Lehrjahr als Auroren abschließen, während sie selbst ihren Abschluss nachholte.
Sie hätte anders entscheiden können. Sie hätte zusammen mit den Jungs die Ausbildung beginnen können. Aber sie hatte es nicht getan. Aus mehreren Gründen.
Sie fühlte sich einfach nicht wohl bei dem Gedanken, keinen vernünftigen Abschluss in der Tasche zu haben. Das war der Grund, den sie Ron und Harry genannt hatte. Der zweite Grund war komplexer, und darüber hatte sie mit den beiden nicht geredet. Tatsache war, sie wusste nicht, ob sie überhaupt eine Aurorenausbildung machen wollte. Wenn sie ganz ehrlich war, wusste sie überhaupt nicht, was sie nach der Schule machen wollte. Und das ängstigte sie. Sie war immer jemand gewesen, der Ziele klar vor Augen hatte und diese dann verfolgte. Plötzlich kein greifbares Ziel zu haben, war beängstigend.
Ein wenig Angst hatte es ihr auch gemacht, den Schulabschluss ohne Ron und Harry nachzuholen. Sie war so lange nicht von den beiden getrennt gewesen. Aber selbst dies war nicht so beängstigend wie ihre derzeitige Angst vor der Zukunft. Daher konzentrierte sie sich auf das einzige Ziel, welches sie derzeit hatte: Den Abschluss. Die Prüfungen standen in wenigen Wochen an und sie lernte noch mehr, als sie es jemals zuvor getan hatte.
Sie vermisste Ron und Harry. Die beiden waren das Wichtigste in ihrem Leben. Ron, ihr Partner, und Harry, ihr bester Freund. Aber sie waren nicht aus der Welt und sie wusste, dass die beiden für immer in ihrem Leben bleiben würden, egal, wie sich die Dinge entwickelten.
Ein leises Rascheln ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Ließ sie wieder daran denken, dass sie nicht alleine hier war, in der Bibliothek. Sie war es über die Jahre so gewohnt, dass sie fast immer die einzige hier war, dass es in den ersten Wochen merkwürdig war, es nicht mehr zu sein.
Er saß wenige Tische von ihr entfernt.
Sie hatten beide ihre festen Plätze hier, sie schon seit Jahren, er seit diesem Schuljahr.
Draco Malfoy war einer der wenigen Slytherins ihres gemeinsamen Jahrgangs, der sich ebenfalls entschlossen hatte, das Schuljahr zu wiederholen.
Als sie ihn das erste Mal wiedergesehen hatte, war sie nicht sicher, was sie denken sollte. Was sie erwarten sollte. Sie rechnete mit allem möglichen, nur nicht mit dem, wie er sich tatsächlich verhielt.
Anfänglich, in den ersten Wochen, hielt sie es für eine Maske, für ein Schauspiel, das er veranstaltete. Sie wartete darauf, dass der alte Draco Malfoy sich früher oder später wieder zeigen würde. Dass zumindest irgendwann wieder ein Funken Arroganz auftauchen würde, irgendein herablassender Spruch, zumindest ein eiskalter Blick. Nicht speziell in Bezug auf sie, nein, einfach allgemein. Er war schließlich so ziemlich jedem auf diese Art gegenübergetreten, sogar dem Lehrpersonal.
Aber nun war das Schuljahr fast rum und es hatte sich nichts geändert.
Nachdenklich betrachtete sie ihn, wie er sich konzentriert über die Bücher und Pergamente beugte und lernte.
Er war immer noch furchtbar dünn, hatte kein Gramm zugenommen. Auch die dunklen Schatten unter seinen Augen waren unverändert, sein Gesicht ernst. Sie hatte ihn nicht einmal lächeln sehen. Auch nicht grinsen. Nein, es schien, als seien seine Mundwinkel eingefroren, wie sein ganzes Gesicht. Keine Regung hatte sie dieses Schuljahr darauf ablesen können, selbst den üblichen Hass nicht, den sie von ihm kannte, nicht einmal Spott. Nichts.

Er redete mit niemandem. Und niemand redete mit ihm. Würde er sich nicht sehr rege am Unterrichtsgeschehen beteiligen, hätte man fast vermuten können, er hätte seine Stimme verloren.
Er kam jeden Tag in die Bibliothek und lernte wie ein Besessener. Wie die anderen Schülerinnen und Schüler mit ihm umgingen, schien ihn nicht zu interessieren. War er früher stets darauf bedacht, im Mittelpunkt zu stehen und zu prahlen, ignorierte er nun jeden um sich herum.
Sie hatte es beobachtet, und auch er musste es wahrnehmen. Die Blicke, die ihm zugeworfen worden. Die Tuscheleien. Der Abstand, den jeder zu ihm hielt. Die Erstklässler schafften es nicht, zu verbergen, dass sie Angst vor ihm hatten. Er ignorierte die Kleinen stets, wenn sie sich auf den Gängen möglichst nah an die Wände schoben, wenn er ihnen entgegen kam.
Die Professoren hatten es längst aufgegeben, an das Gewissen der Mitschüler zu appelieren, wenn mal wieder niemand sich dazu bereit erklärte, eine Partnerarbeit mit ihm zu machen, selbst die anderen Slytherins nicht. Das Lehrpersonal akzeptierte mittlerweile, dass er sich dann einfach alleine an die Aufgabe setzte und sie bearbeitete. Einmal wurde ihm in Zaubertränke zwangsweise ein anderer Schüler zugeteilt, aber dieser hyperventilierte fast, als Malfoy das Messer nahm, um die Kräuter zu schneiden. Danach war niemand mehr auf die Idee gekommen, eine Zusammenarbeit zu erzwingen.
Sie hatte gedacht, dass es sich über die vielen Monate ändern würde. Dass die Mitschüler sich entspannen würden, denn er hatte sich tatsächlich nicht ein einziges Mal etwas zu Schulden kommen lassen. Er war nicht einmal jemals nach Sperrstunde im Schloss unterwegs, nichts. Er beleidigte niemanden, und erst recht griff er niemanden an. Er war einfach da und lernte. Aber es änderte nichts.
Es änderte nichts an der Angst, die die meisten vor ihm hatten, und es änderte nichts an dem Hass, dem ihn viele entgegen brachten. Denn jene gab es auch, die ganz Mutigen - zumindest nahm Hermine an, dass sie sich mutig fanden - die ihn provozieren wollten. Sie hatte es ein paarmal mitbekommen. Es gab ein paar Gruppen, die sich zusammenschlossen, und ihm scheinbar gelegentlich auflauerten. Sie wusste nicht, was sie taten, und erst recht wusste sie nicht, was sie damit beabsichtigten. Vermutlich versuchten sie, ihn zu etwas Unüberlegten zu bringen, damit er von der Schule flog. Einmal meinte sie, in eine solche Konfrontation hineingeraten zu sein. Sie bog um die Ecke, und da kam ihr diese Gruppe von fünf oder sechs Schülern entgegen, mit raschen Schritten, und wenige Meter entfernt sah sie ihn. Er lehnte an der Wand und kurz meinte sie, er würde sich krümmen, aber er musste ihre Schritte gehört haben, denn plötzlich stand er so gerade an der Wand, dass sie sich nicht sicher war, ob sie es sich nicht eingebildet hatte. Aber sie sah eindeutig, dass er sich etwas mühsam von der Wand abstieß, ehe er an ihr vorbeiging, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Eigentlich war sie sich ziemlich sicher, dass sie ihm vermutlich nur mit irgendwelchen leeren Sprüchen gedroht hatten, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sich irgendetwas anderes gefallen lassen würde. Schließlich war er dafür nicht der Typ.
Sie bemerkte erst, dass sie ihn noch immer anstarrte, als er anfing, seine Sachen zusammenzuklauben und in seine Tasche zu packen.
Als er fertig war, stand er auf, und sein Weg zur Tür führte unweigerlich an ihrem Platz vorbei.
Und über die vielen Monate war es zu einem merkwürdigen Ritual geworden - verließ er zuerst die Bibliothek und ging an ihr vorbei, hob sie den Kopf. Sie sahen sich kurz an - sein Blick schien mehr oder weniger durch sie hindurch zu gehen - und nickten sich zu. Verließ sie zuerst die Räumlichkeiten, spielte es sich ähnlich ab: Kaum, dass sie aufstand, sah sie zu seinem Tisch, er blickte kurz von seinen Pergamenten auf und sie nickten beide.
Es war ein merkwürdiges Ritual, aber mittlerweile so vertraut wie alles andere. Es war der einzige Kontakt, den sie in den ganzen Wochen gehabt hatten, tatsächlich hatten sie kein einziges Wort miteinander gesprochen, und sie war sich sicher, dass dies bis zum Ende des Schuljahres so bleiben würde und sie ihn danach nie wiedersehen würde.

Happiness does not wait (Dramione Story) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt