In der Bibliothek

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Sie las den Brief bereits zum dritten Mal.
Ron schrieb ihr selten, er war einfach faul, was sowas anging, das wusste sie, auch waren die Briefe nie besonders lang. Aber sie waren stets liebevoll geschrieben und so voller Zuneigung, dass ihr warm ums Herz wurde.
Sie war bereits spät dran, also schob sie den Brief zwischen ihre Schulbücher und packte ihn mit ein, ehe sie sich auf den Weg zum Unterricht machte.
Die ersten Stunden verliefen ohne große Zwischenfälle, es wurde intensiv auf die Abschlussprüfungen vorbereitet und sie bemerkte, dass sie schon recht gut vorbereitet war.  Dementsprechend gut gelaunt machte sie sich auf zum Mittagessen.
Als sie an den Toilettenräumen vorbeikam, stockte sie plötzlich. Sie meinte, wütende Stimmen zu hören, dann ein merkwürdig klatschendes Geräusch und schließlich Gelächter.
Sie zögerte, aber die Stimmen waren eindeutig männlich gewesen und kamen aus der Jungentoilette, so dass sie unsicher war, wie sie sich verhalten sollte. Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl, aber sie konnte ja schlecht einfach die Tür zu den Jungentoiletten öffnen.
Kurz darauf stellte sich aber heraus, dass dies auch gar nicht nötig war, denn die Tür wurde von innen geöffnet und drei Jungen aus dem Abschlussjahrgang – keine Wiederholer – kamen immer noch lachend heraus. Da sie sich sofort in die andere Richtung gewandt hatten, hatten sie Hermine nicht bemerkt, noch hatte diese die drei erkennen können.
Die Tür zur Jungentoilette war nicht wieder zugefallen, nachdem die drei Jungs sie mit Schwung geöffnet hatten, und sie ging langsam die wenigen Schritte zum Eingang.
Sie hatte einen direkten Blick hinein und stellte als erstes aufatmend fest, dass gerade kein Junge an einem der Pissoirs stand, um sich zu erleichtern. Allerdings brauchte ihr Gehirn einen Moment, um den tatsächlichen Anblick zu begreifen.
Malfoy hockte auf dem Boden. Neben ihm lag seine Schultasche, aber sie war vollkommen leer, und ihre Augen weiteten sich, als sie sah, dass einige Bücher und Pergamente tatsächlich aus einem der Pissoirs ragten.
„Was ist passiert?“
Sie war selbst erstaunt, wie schrill ihre Stimme klang.
Malfoy zuckte zusammen und sah auf.
Sie konnte seinen Blick nicht deuten, und er senkte ihn so schnell, dass sie auch keine Zeit hatte, intensiver nachzudenken.
Dann erhob er sich.
„Was ist passiert?“, fragte sie noch einmal, dieses Mal beherrschter. Irgendetwas stimmte hier gewaltig nicht.
Er nuschelte unwirsch irgendwas vor sich hin.
Ehe sie darüber nachdenken konnte, was sie tat, betrat sie die Jungentoilette. Sie sah sich kurz um, aber sie schienen tatsächlich alleine zu sein.
„Du gehst in eine Jungentoilette?“, fragte er. Seine Stimme war ruhig, beinahe gleichgültig.
„Ich bin gleich wieder weg“, versicherte sie rasch. „Ich wollte nur fragen, ob alles ok ist?“
„Ja, alles bestens.“ Er sah sie immer noch nicht an.
„Was ist passiert?“, fragte sie nun zum dritten mal.
„Bin gestolpert.“
Sie starrte ihn fassungslos an, wie er da stand, seinen Zauberstab vollkommen ruhig schwang und sein Schulmaterial aus dem Pissoir zauberte, um sie nebeneinander auf dem Boden auszubreiten.
„Du bist gestolpert“, wiederholte sie tonlos.
Er reagierte nicht, sondern begann, das Papier mit seinem Zauberstab zu trocknen.
„Du bist gestolpert und deine gesamten Schulsachen sind dabei aus deiner Tasche in eine Toilette gekippt.“
„Scheint so.“
„Scheint so?“, fragte sie fassungslos.
„Ja, Granger“, sagte er, immer noch vollkommen ruhig. „So unfassbar es dir vorkommen mag, aber genauso ist es gewesen.“
Sie starrte ihn einige Sekunden an, während er immer noch den Trocknungszauber ausübte.
„Und die drei Jungs, die gerade hier raus kamen?“, fragte sie provokativ.
„Was ist mit ihnen?“
„Sie haben gelacht. Was hat das zu bedeuten?“
„Sie fanden es wohl witzig, dass mir das passiert ist.“
Wieder konnte sie ihn nur anstarren.
Mit einem Schlenker seines Zauberstabs sorgte er dafür, dass seine Schulsachen wieder in seiner Tasche verschwanden. Er schulterte sie und ging an Hermine vorbei, ohne sie anzusehen.
„Malfoy!“
„Ich muss los, ich habe keine Lust, das Mittagessen zu verpassen.“
Sie stand fassungslos alleine da und wusste nicht, was sie denken sollte.

Sie wusste, es war fast ein wenig albern, dass sie Rons Brief neben sich liegen hatte, während sie in der Bibliothek lernte. Aber irgendwie war es ein schönes, beruhigendes Gefühl, die Zeilen neben sich zu wissen. Sie freute sich darauf, ihn endlich wieder mehr sehen zu können, wenn sie ihren Abschluss gemacht hatte. Denn egal, wie es danach weiterging, sie würde mehr Kontakt zu ihm haben können. Und zu Harry natürlich auch.

Malfoy war bisher noch nicht da, und das wunderte sie. Er war sonst eigentlich genauso pünktlich zum Lernen hier wie sie.
Es war merkwürdig gewesen, heute mit ihm zu reden. Sie hatten das ganze Schuljahr über nicht geredet, und im Vergleich dazu plötzlich so viel. Und sie hatten sich tatsächlich nicht beleidigt! Fast hätte sie über diesen Gedanken geschmunzelt, aber nur fast. Die Situation war wirklich merkwürdig gewesen, und hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie geschworen, dass die Jungs handgreiflich ihm gegenüber gewesen waren. Aber sie kannte Malfoy. So etwas hätte er niemals zugelassen. Sie war sich ziemlich sicher, dass er den meisten Mitschülern körperlich überlegen war, auch wenn er eine so schlanke Statur hatte, außerdem hätte er sich sicher mit seinem Zauberstab verteidigt, wenn er tatsächlich angegriffen worden wäre. Zudem konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendwelche Schüler so etwas tatsächlich tun würden – sie ging stark davon aus, dass sie Angst vor möglichen Konsequenzen hätten, ganz abgesehen davon, dass die meisten Mitschüler eben auch vor ihm Angst hatten.
Sie versuchte, sich weiter aufs Lernen und Ausarbeiten zu konzentrieren, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder zu Malfoy. Sie sah zu seinem leeren Platz, an dem er sonst saß.
Bei Merlin, warum machte sie sich überhaupt solche Gedanken? Es ging sie nichts an! Außerdem konnte gerade er ihr wirklich vollkommen gleichgültig sein.
Aber sie war eben, wie sie war. Sie spürte, wenn etwas nicht stimmte. Sie spürte, wenn irgendwo Ungerechtigkeiten passierten. Mit Ungerechtigkeiten kannte sie sich aus. Zu Genüge.
Da betrat er plötzlich die Bibliothek und steuerte gezielt seinen Stammplatz an.
Fast fühlte Hermine so etwas wie – Erleichterung?
Nein, vermutlich war es einfach nur die merkwürdige Unterbrechung der Routine, dass er sonst so pünktlich hier war, die sie aus der Bahn geworfen hatte.
Kurz kam es ihr so vor, als sei er aufgewühlt, aber nachdem er seine Tasche abgestellt hatte, holte er seine Schulsachen so ruhig wie immer heraus und auch sein Gesichtsausdruck war so verschlossen wie eh und je.
Eine Weile saßen sie beide schweigend an ihren Plätzen. Es war alles wie immer.
Aber verrückterweise hatte Hermine das Bedürfnis, dieses merkwürdige Ritual heute zu unterbrechen. Sie wusste selbst nicht, warum sie es tat, aber sie stand auf und ging an seinen Tisch.
Er hatte bereits auf der Hälfte ihrer zurückgelegten Strecke begriffen, was ihr Ziel war und sah ihr leicht skeptisch entgegen.
Vor seinem Tisch kam sie zum Stehen.
„Hast du den Aufsatz für Professor Slughorn schon fertig?“ Die Worte sprudelten einfach so aus ihr heraus, völlig atemlos.
Er starrte sie ausdruckslos an. Dann schaute er sich um, lehnte sich sogar zur Seite, um an ihr vorbei hinter sie zu schauen und sagte dann langsam: „Du weißt schon, mit wem du gerade redest?“
Sie begriff, dass er sich umgesehen hatte, um sicher zu sein, dass niemand in der Bibliothek war, niemand, der sie dazu angestiftet hatte, ihn anzusprechen. Er vermutete eine Falle, ging ihr auf.
Sie hatte keine Lust auf Spielchen. Sie hatte zu viel erlebt, als dass sie sich noch so albern benehmen wollte wie sie es früher vielleicht getan hätte. Der Krieg hatte sie verändert.
„Malfoy“, begann sie. „Die Situation heute war wirklich merkwürdig. Und ich hatte schon häufiger das Gefühl, dass du in merkwürdige Situationen verwickelt warst in diesem Schuljahr-“
„Willst du mir unterstellen, dass ich Ärger mache? Ist es das?“
Perplex starrte sie ihn an.
„Was? Nein! Ich wollte nur sagen-“
„Gut“, unterbrach er sie ruhig. „Dann lass mich jetzt einfach lernen.“
Er senkte seinen Blick auf seine Pergamente.
Einen Moment starrte sie ihn einfach an. Dann fragte sie sich, was sie hier eigentlich tat. Plötzlich war das ganze ihr einfach nur unangenehm. Er wollte offensichtlich nicht mit ihr reden, und genau genommen war er auch die letzte Person, mit der sie reden wollte. Was ging es sie überhaupt an? In wenigen Wochen würde sie ihn zum letzten Mal sehen und vermutlich wäre das sehr gut so, denn viel zu sehr erinnerte er sie an die Dinge, die geschehen waren.
Ruckartig drehte sie sich um, ging zu ihrem Tisch, raffte schnell alle ihre Sachen zusammen und verließ rasch die Bibliothek.
Kurz glaubte sie, er hätte ihr etwas hinterhergerufen, aber sie war sich sicher, dass sie es sich nur eingebildet hatte.

Happiness does not wait (Dramione Story) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt