Ein Name im Kopf

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Sie verließ den ganzen Tag ihr Zimmer nicht mehr.
Hermine wusste, ehe sie Draco noch einmal unter die Augen trat, wollte sie sich selber darüber im Klaren sein, was sie wollte, was sie fühlte, und, vor allen Dingen, was sie dazu brachte, so zu handeln wie sie es tat.
Sie rief Irmel zu sich und bat sie, ihr Essen aufs Zimmer zu bringen, was die kleine Elfe kommentarlos tat.
Sie sah Hermine jedes Mal, wenn sie auftauchte, merkwürdig, fast ein wenig traurig an, und Hermine war sich sicher, dass sich irgendetwas unter den Hauselfen herumgesprochen haben musste.
Sie war Irmel unendlich dankbar, dass diese es aber nicht ansprach.
Hermine wollte mit niemandem reden. Sie wusste, das war eine Sache, die sie mit sich selbst ausmachen musste.
Als wenn ihr Geist im Schlaf verarbeiten wollte, schlief sie nach dem Frühstück ein und sie wurde erst wach, als Irmel ihr das Mittagessen brachte. Nach dem Essen las Hermine, lenkte sich ab, versuchte ihren Kopf frei zu bekommen. Es half.
Nach dem Abendessen war ihr Kopf so klar, dass die Gedanken sich ganz von alleine und so offensichtlich ordneten, dass sie sich fragte, warum dies nicht schon eher passiert war.
Er hatte sie überrumpelt, beide Male, als er sie küsste. Beim ersten Mal wirkte er so impulsiv dabei, dass sie sich sicher gewesen war, dass es nichts zu bedeuten hatte. Das zweite Mal, heute, war etwas völlig anderes gewesen. Gut, man könnte es so interpretieren, dass er nur einer Tradition nachkommen wollte, aber dann hätte der erste Kuss genügt.
Er mochte sie. Und zwar nicht freundschafltich. Das war ihr in diesem Moment klar geworden, als sie in der Terrassentür standen.
Es hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Er hatte sie gehasst während der Schulzeit. Und in der ersten Zeit, als sie sich im Mungo wiedergesehen hatten, hatte er sie regelrecht von sich gestoßen. Sie konnte und wollte einfach nicht verstehen, warum sich das plötzlich geändert hatte.
Und je mehr sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, wovor sie Angst hatte.
Sie hatte Angst, dass er sich selber Gefühle einredete, die nicht da waren. Einfach aufgrund der Tatsache, dass sie jetzt eben seit einer geraumen Weile eng zusammenwohnten und sie so ziemlich sein einziger sozialer Kontakt war. Sie hatte Angst, dass er irgendwann merkte, dass diese vermeintlichen Gefühle einfach aus einer Einsamkeit heraus geboren und nicht echt waren. Denn sie wusste, das würde ihr das Herz brechen.
Und sie wusste, es gab nur eine Möglichkeit, um Klarheit zu schaffen: Sie musste mit ihm reden.
Ganz offen, ganz ehrlich. Sie musste ihm ins Gesicht sagen, dass sie etwas für ihn empfand. Und ihm sagen, was ihre Angst war. Vielleicht konnte er ihr diese Angst nehmen.
Ihr Herz flatterte, als sie daran dachte, dass es tatsächlich sein konnte, dass er sich in sie verliebt hatte.
Sie würde ihn so gerne wieder küssen. Es wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass es so war.
Und noch etwas begriff sie: Sie war zu verkopft, was Beziehungen anging. Wäre sie das nicht, hätte sie schon viel eher begriffen, was Ron ihr hatte sagen wollen, als er meinte, sie solle in Bezug auf eine Beziehung nicht nur reine Kopfentscheidungen treffen.
Sie lag langgestreckt, barfuß und in Jogginghose und schlichtem T-Shirt, auf ihrem Bett und starrte die Decke an. Es war schon ziemlich spät, schon nach elf Uhr, als sie schließlich Dracos Schritte auf dem Flur hörte.
Er ging in sein Zimmer.
Kurz war sie versucht, liegen zu bleiben und das Gespräch auf den morgigen Tag zu verschieben, aber sie wusste, das wäre feige. Sie wollte jetzt mit ihm reden.
Sie stand auf, öffnete ihre Zimmertür und lauschte.
Er musste bereits in seinem Zimmer sein.
Leise ging sie auf nackten Füßen über den Flur. Ihr Herz klopfte wie verrückt, aber sie wusste, es war die einzig richtige Entscheidung.
Als sie an seinem Zimmer ankam, stellte sie überrascht fest, dass die Tür nicht komplett geschlossen war. Sie stand in etwa zwei Handbreit auf, und ohne es zu wollen, fiel ihr Blick hinein.
Augenblicklich blieb sie wie versteinert stehen und hielt den Atem an.
Draco war wohl gerade dabei, sich bettgehfertig zu machen.
Die Vorhänge waren zugezogen, lediglich eine kleine Lampe auf seinem Nachttisch brannte.
Er war barfuß, und er hatte gerade sein Hemd aufgeknöpft und war dabei, es sich abzustreifen.
Peinlich berührt wollte sie sich abwenden, als er das Hemd über die Stuhllehne neben sich hängte.
Sie wollte nun doch erst morgen mit ihm reden. Würde sie jetzt klopfen oder ihn ansprechen, könnte es womöglich so wirken, als würde sie ihn heimlich beobachten.
Sie hatte sich bereits halb abgewandt, als sie erstarrte.
Er stand immer noch mit dem Rücken zu ihr und erst jetzt fielen ihr die Narben auf.
Sie dachte an Harrys Sectumsempra, denn daran erinnerten sie die feinen, hellen Linien, aber sie war sich sicher, dass Harry erzählt hatte, Draco frontal getroffen zu haben, nicht am Rücken.
In diesem Moment drehte Draco sich leicht und schaute in den mannshohen Spiegel, der an einer Wand angebracht war.
Und nun sah Hermine im Spiegelbild die Narben von Harrys Fluch. Allerdings waren es so viele, dass sie fast bezweifelte, dass sie nur von einem einzigen Angriff stammen konnten.
Dann fiel ihr Blick auf Dracos Gesicht, und ihr stockte der Atem.
Es jagte ihr einen Schauder über den Rücken, wie er sich selbst im Spiegel betrachtete.
Sie hatte ihn immer als stolz, fast ein wenig arrogant empfunden, und sie war sich sicher gewesen, dass er viel von sich hielt, insbesondere, da er stets auf ein makeloses und schickes Auftreten geachtet hatte.
Jetzt war sein Blick voller... Resignation? Abneigung?
Abneigung gegen was? Seinen eigenen Körper?
Wenn es so war, verstand sie es nicht.
Ja, er war sehr schlank, fast zu sehr, aber sein Körper war sportlich, wirkte drahtig, und die Narben trugen in ihren Augen nicht dazu bei, dass er nicht... schön war. Ja, sie fand ihn schön, es gab keinen anderen Begriff, der ihr einfiel.
Mit einer beinahe verzweifelten Geste fuhr er sich durchs Haar, atmete tief ein, als wappnete er sich für irgendetwas, und plötzlich fragte sie sich, ob sie gerade Zeugin eines allabendlichen Rituals wurde, welches ihn bedrückte und ihm offensichtlich nicht gut tat.
Sie sah ihn tief einatmen, sah einen merkwürdigen Schmerz in seinen Augen... Und im nächsten Moment drehte er seinen linken Unterarm Richtung Spiegel.
Sie konnte nicht unterdrücken, dass sie erschrocken nach Luft schnappte.
Das Dunkle Mal war verblasst und still, aber der Anblick rührte so viel in Hermine, dass ihr kurz die Luft zum Atmen fehlte.
So viele Erinnerungen schwappten in ihr hoch. Sie dachte an den Krieg, an Schreie, an Blut und sterbende Menschen, an ihre Flucht, an den Dolch von Bellatrix Lestrange, an Angst und an Tränen.
„Was zur Hölle machst du hier?“
Er war zu ihr herumgefahren und starrte sie an, nur einen kurzen Moment, ehe er beinahe panisch nach seinem Hemd griff und es überzog.
Sie schob die Tür auf und machte einen Schritt in den Raum.
„Oh, Draco, es tut mir so-“
Er knöpfte mit fahrigen Bewegungen sein Hemd unordentlich zu.
„Kannst du mir verraten, was der Scheiß soll?“
„Ich sagte doch, es tut mir-“
„Dein verfickter Ernst? Du schleichst dich hier an und-“
„Ich habe mich nicht angeschlichen! Ich wollte mit dir reden und-“
„Mit mir reden? Und warum tust du das dann nicht? Warum stehst du blöd in der Tür und starrst mich schweigend an?“
Sie sah eine unglaubliche Wut in seinen Augen, aber auch etwas anderes... Angst?
„Hör mir doch zu-“, begann sie.
„Ich höre dir nicht zu! Verschwinde! Sofort!"
Er trat einen Schritt auf sie zu und fast machte er ihr ein wenig Angst.
„Hast du mich nicht verstanden? Hau ab! Am besten gehst du jetzt gleich zu dem Wiesel!“
„Verdammt noch mal, kannst du mir mal sagen, warum du dich ständig so widersprüchlich verhältst?“, fuhr Hermine ihn an.
„Ach, ich verhalte mich widersprüchlich, ja?“, fragte er höhnisch.
„Ja!“
„Wie kann man nur so viel Mist am Stück reden!“ Er musterte sie so abfällig, wie sie es schon lange nicht mehr gesehen hatte. Es erinnerte sie so stark an ihre Schulzeit, dass es ihr regelrecht schmerzte.
„Was soll das, Draco? Warum redest du so mit mir? Ich habe doch versucht, mich zu entschuldigen! Wenn du mir zuhören würdest-“
„Einen Scheiß mache ich! Ich sage es ein letztes Mal: Verzieh dich endlich!“
Sie spürte einen dicken Kloß in ihrem Hals.
„Ich dachte, du hättest dich geändert“, sagte sie leise.
„Oh, weißt du, ich habe eine Überraschung für dich: Ich bin immer noch das gleiche blöde Arschloch wie damals.“
Sie starrte einen Moment fassungslos in sein wütendes Gesicht, dann fuhr sie herum und rannte in ihr Zimmer.
Dort angekommen schnappte sie ihre Handtasche, riss den Kleiderschrank auf und begann, ihre Sachen herauszuzerren und in die Tasche zu stopfen.
Sie war wütend. Sie war so unfassbar wütend, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Und dann fiel ihr etwas anderes auf.
Seine Worte hatten sie wütend gemacht, ja.
Aber sie schmerzten nicht.
Warum schmerzten seine Worte nicht?
Sie erstarrte mitten in der Bewegung.
Weil sie nicht wahr waren.
Er wollte nicht, dass sie ging. Sie wusste es plötzlich mit absoluter Sicherheit.
Er hatte sie von sich gestoßen, weil er Panik bekommen hatte. Warum genau, verstand sie noch nicht ganz.
Sie wusste nur eins: Sie würde nicht gehen.
Sie warf ihre Handtasche aufs Bett und ging zurück zu seinem Zimmer.
Die Tür stand noch genauso offen wie eben gerade noch.
Sie zögerte einen kurzen Moment, dann betrat sie sein Schlafzimmer.
Der Raum war unverändert, immer noch tauchte seine kleine Nachttischlampe das Zimmer in diffuses Licht.
Er saß auf dem Boden, in der Nähe seines Bettes. Er hatte seine Knie angezogen, seine Arme darauf gelegt und seine Stirn dann wiederum auf seine Arme gestützt, so dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte.
Er saß vollkommen still, man sah ihn nicht einmal atmen.
Sie ging weiter ins Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.
Sie wusste nicht, ob er sie gehört hatte, er reagierte jedenfalls nicht.
Langsam, leise, vorsichtig näherte sie sich ihm, als sei er ein scheues Tier, das man mit einer unbedachten Bewegung verschrecken konnte.
Sie setzte sich neben ihn auf den Boden, und sie war sich sicher, dass er spätestens jetzt merken musste, dass sie im Raum war, aber er rührte sich nicht, was sie kurz verunsicherte.
War es vielleicht doch besser, ihn allein zu lassen?
Sie zögerte, dann hob sie ihre Hand und legte sie vorsichtig auf seinen Rücken, genau zwischen seine Schulterblätter. Deutlich konnte sie spüren, wie er sich anspannte.
Sie öffnete den Mund, wollte irgendetwas sagen, wusste aber nicht, was.
Statt dessen ließ sie ihre Hand langsam über seinen Rücken zu seiner Schulter gleiten, rutschte näher an ihn und legte ihren Arm fest um seine Schultern.
Es kam keine Gegenwehr, und das ermutigte sie.
Sanft zog sie an seiner Schulter, und überraschend willig ließ er sich näher ziehen, sein Kopf löste sich von seinen Armen und kippte statt dessen auf ihre Schulter.
Einen Moment lang war sie überrascht über seine Reaktion. Er schien sich mit der tröstenden Geste tatsächlich wohl zu fühlen.
Einen Augenblick saßen sie einfach so da, und kurz hatte sie tatsächlich das Gefühl, er würde sich entspannen.
Und es fühlte sich verdammt gut an, ihm so nahe zu sein.
Sein Haar, das ihr Kinn und ihren Kiefer kitzelte, fühlte sich weich an. Sein Körper strahlte eine angenehme Wärme aus, und sein Geruch benebelte fast ihre Sinne.
Sanft streichelte sie seine Schulter – und merkte im selben Moment, dass das ein Fehler gewesen war.

Happiness does not wait (Dramione Story) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt