Kapitel 31

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Gilles Sicht

Irgendwie hatte Sam sich verändert. Ich konnte nicht ganz sagen, was diese Veränderung herbeigeführt hatte, aber ich mochte den neuen Sam, also würde ich es ganz sicher nicht ruinieren, indem ich nachfragte. Der neue Sam war offener, redetet mehr und - was das Beste war - lächelte sogar ein paar Mal.

„Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt." „Wofür?", fragte er sichtlich überrascht. „Na für letztens, die Pizza und die Musik." Er tat das nur mit einem Schulterzucken ab. Ich war mir sicher, dass er keine Ahnung hatte, wie viel mir diese Geste bedeutet hatte. Sein Vater hätte ihm vermutlich den Kopf abgehackt, wenn er das mitbekommen hätte und trotzdem war er dieses Risiko eingegangen. Für mich. Dabei fiel mir etwas ein: „Oh, wollten wir nicht noch einen neuen Deal eingehen?"

„So? Wollten wir?" „Ja, wollten wir! Sag schon, was soll ich tun, damit du mir erzählst, was ich dir so schwer mache?" Einen Moment dachte er nach und kam dann zu dem Entschluss, dass er nicht bereit dazu war, die Information preiszugeben. Ich protestierte heftig, aber er blieb erstmal standhaft.

„Aber Sam, ich habe dir auch meins erzählt. Jetzt musst du auch mit der Sprache rausrücken!" Da war es wieder, dieses Lächeln. „Vielleicht erbarme ich mich, wenn du das nochmal sagst." Ich rollte mit den Augen. „Wie selbstverliebt kann man sein? Du weißt ganz genau, was ich gesagt habe. Und jetzt sag schon, was ich dir erzählen kann, damit du mit der Sprache rausrückst." Er kapitulierte: „Na gut, du Quälgeist, dann erzähl mir etwas, über das du noch nie mit jemand anderem geredet hast."

Hmm. Da hatte er sich ja mal was ausgedacht. Angestrengt dachte ich nach. Da gab es tatsächlich etwas, aber ich war mir nicht ganz sicher, wie er darauf reagieren würde.

„Weißt du noch, wie ich einmal meinte, wir beide wären uns gar nicht so verschieden, was unsere Väter angeht...und du dann etwas ausgetickt bist?" Er nickte. „Nun, ich habe das wirklich so gemeint. Mein Vater ist...Es ist sein größtes Ziel, dass ich eine exakte Kopie von ihm werde. Die gleiche Erziehung, die gleichen Hobbies, das gleiche Umfeld, das gleiche College und natürlich der gleiche Berufsweg. Er hat mein gesamtes Leben schon am Tag meiner Geburt vorgetaktet. Ich habe da nichts mitzuentscheiden.

Als er herausgefunden hat, dass ich bi bin, da hat er das einfach ignoriert, so als wäre es gar nicht wahr. Seitdem stellt er mir ständig irgendwelche Töchter von Freunden vor, um mich daran zu erinnern, dass ich ja nicht vom richtigen Weg abkommen soll und später schön eine Frau heiraten soll und zwei, drei Kinder in die Welt setze."

Ich musste kurz durchatmen. Automatisch griff ich nach Sams Hand. Als mir bewusstwurde, was ich da tat, hätte ich meine Hand fast wieder weggezogen, doch Sam hatte bereits seine Finger mit meinen verschränkt. Ich warf ihm ein kurzes Lächeln zu.

„Meinen Freunden - zumindest den besseren - wird das wohl nicht komplett entgehen, aber was sie nicht wissen, ist, dass mich das echt fertig macht. Ich wirke vermutlich eher wie der aufmüpfige, rebellische Sohn, dem die Anweisungen seiner Eltern egal sind, aber manchmal merke ich, wie er gewinnt. Manchmal fühlt es sich so an, als wäre ich wirklich nur seine Kopie und keine eigenständige Person. Ich hasse es, dass er dieses scheiß Spiel mit mir spielt. Aber noch mehr hasse ich es, dass ich nicht gewinnen kann."

Mit einer Geste wies ich auf den Raum, in dem wir saßen. „Ich meine, allein jetzt schon wieder. Mein Leben liegt in seinen Händen. Ich sitze hier nur so lange fest, weil er mich noch nicht rausgeholt hat." Ein freudloses Lachen verließ meine Lippen.

Eine Zeit lang versank ich komplett in meinen Gedanken, bis Sam leicht meine Hand drückte und mich so zurück in die Realität holte. „ Aber Gilles. Du bist eine eigene Person. Du bist witzig, viel zu sarkastisch, viel zu aufdringlich, dabei aber irgendwie auch charmant und natürlich weise." Er grinste mich wissend an und ich musste auch ein wenig lächeln. „Ich denke nicht, dass ich irgendwelche dieser Eigenschaften bei deinem Vater wiederfinden würde. Und selbst wenn, denke ich nicht, dass ich sie an ihm auch nur ansatzweise so mögen würde wie an dir." Der neue Sam machte mich fertig. Wo kam das bloß alles auf einmal her?

„Ich hasse deine Eltern, du hast das echt nicht verdient." Ich wusste nicht, ob er auf mein ganzes Leben oder nur meine aktuelle Situation anspielte, aber trotzdem musste ich ihn unterbrechen: „Meine Mutter ist nicht so schlimm wie mein Vater. Klar, sie sieht für mich auch den gleichen Weg vor, wie es mein Vater tut, aber sie lässt mich dabei auch immer ich selbst sein." Sam wirkte wenig überzeugt, aber er sagte nichts.

„Möchtest du mir verraten, was mit deiner Mutter ist?", hakte ich vorsichtig nach. Bisher hatte er sie nicht einmal erwähnt und gesehen hatte ich sie hier auch noch nicht. Ich wusste nichts, außer, dass er letztes Mal, als ich sie kurz erwähnt hatte, ausgerastet war.

„Ich rede nicht gerne über sie." „Das musst du auch nicht", entgegnete ich schnell, doch er fing trotzdem an, von ihr zu erzählen. „Sie hat uns verlassen. Da war ich gerade elf gewesen." Das erste Mal erlebte ich es, dass Sam nach Worten rang und aufgewühlt schlucken musste.

„Mein Vater verdiente sein Geld zu dem Zeitpunkt schon seit einiger Zeit mit...nicht so legalen Sachen. Irgendwann hatte sie genug davon und ist halt abgehauen."

„Und was war mit dir? Warum hat sie dich nicht mitgenommen?" Aufgebracht fuhr er sich durch die Haare. „Ich war damals so begeistert von meinem Vater, er war mein Vorbild, weißt du?" Er setzte ein grimmiges Lächeln auf. „Das war ihr halt auch nicht entgangen. Also hat sie mich bei ihm gelassen."

Ungläubig starrte ich ihn an. „Sie wusste, dass dein Vater kriminell ist und hat dich trotzdem bei ihm gelassen?" „Ja, aber ich wollte doch unbedingt so sein wie er." „Aber du warst doch noch ein Kind!" Komplett verständnislos sah er mich an. Er versstand es echt nicht. Er dachte wirklich, dass es seine eigene Schuld war, dass seine Mutter ihn zurückgelassen hatte.

„Du warst ein Kind, Sam", wiederholte ich nochmal. „Du hattest doch gar keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte. Klar wolltest du wie dein Vater sein, Kinder nehmen sich ihre Eltern doch immer als Vorbilder, weil sie in ihren Augen einfach perfekt sind." Ich machte eine kurze Pause, um ihn das alles verarbeiten zu lassen. Ich sah zu, wie es in ihm arbeitete. Dann schüttelte er grimmig den Kopf. „Also willst du sagen, sie hat mich nicht hiergelassen, weil sie dachte, ich wollte das so, sondern weil sie mich einfach nicht mehr haben wollte?"

Perplex blinzelte ich; das war nun so gar nicht das gewesen, was ich hatte ausdrücken wollen. „Ich wollte damit sagen, dass du damit aufhören musst, dir selbst die Schuld dafür zu geben, dass sie gegangen ist und anfangen solltest, dir klarzumachen, dass sie vielleicht einfach nicht die perfekte Mutter ist, als die du sie siehst, und auch Fehler macht. In diesem Fall einen sehr großen Fehler."

„Tja, das ist leichter gesagt als getan." Resigniert lehnte er seinen Kopf gegen die Wand und schloss kurzzeitig die Augen.

Als er kurz darauf den Raum verließ, erinnerte ich ihn nicht daran, dass er mir noch etwas erzählen musste. Darauf würde ich sicherlich noch zurückkommen, aber das war nicht der richtige Moment, denn es war offensichtlich, wie schwer Sam das Gespräch eben gefallen war und wie sehr es ihn mitnahm.

Fill me with poisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt