Kapitel 42

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Sams Sicht

Das Erste, was ich jeden Morgen tat, war nachzusehen, ob Gilles noch da war. Es grenzte an ein Wunder, dass er noch nicht verschwunden war. Aber mir zuliebe blieb er sicher nicht. Fünf Tage waren vergangen, seit er hier eingezogen war, und seitdem hatte er kein einziges Wort mit mir gewechselt, nicht einmal eine Erwiderung auf mein „Guten Morgen" bekam ich. Shea musste das mittlerweile eigentlich auch aufgefallen sein, aber tatsächlich hatte sie mich bisher noch nicht deswegen mit Fragen gelöchert.

Gilles war noch da. Erleichtert atmete ich aus. Ich wollte wirklich nicht, dass er sich selbst auf die Straße beförderte, denn scheinbar hatte er keine andere Option, wenn er sogar mich als Mitbewohner auf sich nahm. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, wie es so weit kommen konnte. Seine Familie hatte doch Geld zum Abwinken. Aber ich war mir sicher, dass wenn ich ihn danach fragte, er mich umbringen würde. Oder wenn ich ihn nach irgendetwas anderem fragen würde. Dabei wollte ich gerne über so vieles mit ihm reden.

Während ich mit der recht lauten Kaffeemaschine rumhantierte, schlief er seelenruhig weiter. Als ich eine Unterhaltung von ihm und Shea mit angehört hatte, hatte ich erfahren, dass er die Nächte am Wochenende in einem Club arbeitete. Vermutlich würde er jetzt also noch einige Stunden weiterschlafen. Ich hätte auch definitiv nichts dagegen, mich nochmal hinzulegen. Seit dem Gilles hier war - eigentlich schon, seit ich ihn das erste Mal wiedergesehen hatte - schlief ich schlechter. So viele Fragen waren da in meinem Kopf und raubten mir den Schlaf.

Aber zum Schlafen blieb mir jetzt keine Zeit, denn meine Schicht begann gleich und wenn ich auch nur dreißig Sekunden zu spät kam, wäre die zweite Chance, die ich mir nach meinem stürmischen Abgang, um Gilles zu verfolgen, so hart erarbeitet hatte, wohl endgültig hinüber. Eine halbe Stunde lang hatte ich wahrhaftig darum gebettelt, nicht gefeuert zu werden. Was folgten waren einige nicht sehr freundliche Verweise darauf, dass von einem Ex-Häftling ja nichts anderes zu erwarten sein konnte. Und trotzdem hatte ich mich danach dankend wieder an die Arbeit gemacht. Das hier war Miami, Arbeitgeber, die nicht unterbezahlten und gleichzeitig mich einstellten, waren rar. Also war ich auch heute wieder dankbar dafür, überteuerten Kaffee in billige Pappbecher füllen zu dürfen.

Das einzig Interessante an meinen Job war es, Menschen zu beobachten. Es kamen die interessantesten Persönlichkeiten mit noch interessanteren Geschichten her. Heute hatte ich eine halbe Stunde lang einer jungen Person zugehört, die am Telefon versucht hat, ihren Eltern zu rechtfertigen, warum sie abgehauen war. Kurz darauf konnte ich ein Paar - oder vielleicht eher ehemaliges Paar - beobachten, wie sie heftig darüber stritten, wer denn nun nächstes Wochenende die Kinder haben durfte. Es schien kein guter Tag für Familien zu sein.

Einen kurzen Moment musste ich an meine Familie denken. Obwohl ich sie eigentlich nicht mehr so nannte. Seitdem ich der Polizei geholfen hatte, meinen Vater einzubuchten, hatte er mir geschworen, nie wieder auch nur ein Wort mit mir zu wechseln. Sollte mir recht sein. Und meine Mutter...tja, die war immer noch weg.

Aber ich verdrängte diese Gedanken schnell wieder und konzentrierte mich lieber weiter auf die Probleme anderer Menschen. Das war bedeutend amüsanter.

Trotzdem war ich froh, als meine Schicht endlich vorbei war und ich nach Hause gehen konnte. Dort ging ich schnurstracks zum Kühlschrank, ich war echt ausgehungert. Natürlich nicht ohne vorher Shea zu begrüßen - und eigentlich auch Gilles, aber der ignorierte mich natürlich. Er lag mit seinem Handy in der Hand auf dem Sofa und sah nicht einmal mehr auf, als ich hereinkam. Anders als Shea, die ein paar Meter weiter mit ihrem Laptop am Tisch saß und zu arbeiten schien.

„Ich habe gute Neuigkeiten", rief Shea mir zu, als ich mir gerade einen Joghurt nahm. „Wir werden heute einen Spielabend machen. Wir alle drei." Irritiert streckte ich meinen Kopf ins Wohnzimmer. „Ach ja?" Zweifelnd sah ich zu Gilles, der jetzt ziemlich verdrießlich dreinblickte. „Ja!", kam es fröhlich von Shea und da Gilles nicht protestierte, schien das wohl tatsächlich abgesprochen zu sein. Wie genau hatte sie ihn denn dazu überredet?

„Ich wusste nicht, worauf ihr Lust habt, also habe ich gleich mal mehrere Spiele geholt." Shea wirkte so begeistert, dass es mir schon etwas leidtat, wie unmotiviert Gilles und ich uns auf unseren Plätzen gaben. Sie setzte sich neben Gilles aufs Sofa - er Platz, den ich wohlwissend nicht gewählt hatte. Stattdessen hatte ich mich ihnen gegenüber auf einen Sessel gesetzt.

Wir begannen mit dem Spiel des Lebens, was fast schon klar gewesen war, weil das Sheas absoluter Favorit ist. Gilles achtete bei jedem Zug penibel genau darauf, mich nicht aus Versehen zu berühren, was mich erneut wundern ließ, warum er sich zu diesem Unterfangen bereiterklärt hatte.

Zwar war ich kein großer Fan der Spieleabende, aber sonst genoss es immer, währenddessen mit Shea herumzualbern. Heute jedoch antwortete ich ihr immer nur abwesend, da meine ganze Konzentration auf die andere Person mir gegenüber gerichtet war. Ständig musste ich zu ihm herübersehen. Mich vergewissern, dass es wirklich und wahrhaftig er war. Nach all den Jahren hätte ich nicht mehr damit gerechnet, ihn überhaupt jemals wiederzusehen und nun saß er hier auf meiner Couch. Und spielte mit mir Das Spiel des Lebens. Unauffällig kniff ich mir in den Arm, doch Gilles verschwand nicht. Das hier war die Realität.

Fill me with poisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt