Kapitel 46

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Sams Sicht

Lange Zeit hatte ich gestern hellwach im Bett gelegen und nicht mal an Schlaf denken können. Gilles hatte penibel genau darauf geachtet, dass zwischen uns ausreichend Abstand war, aber ich war mir trotzdem seiner Anwesenheit in meinem Bett mehr als bewusst gewesen. Wir hatten kein Wort gesprochen, auch nicht - oder vor Allem nicht - über diese Sache.

Irgendwann war ich aber doch noch eingeschlafen und als ich am Morgen aufwachte, stellte ich sofort fest, dass Gilles Abstand die Nacht nicht überstanden hatte. Er lag nah an mich gekuschelt neben mir und mein Arm ruhte auf seinem Oberkörper.

Ich sollte mich sofort von ihm lösen, eher er aufwachte und einen Herzinfarkt erlitt. Und das würde ich auch tun, sobald ich den Moment noch kurz genossen hatte. Noch nie war ich neben ihm aufgewacht, das war neu und fühlte sich so unglaublich gut an, dass ich mir umgehend wünschte, nur noch so aufzuwachen. Was kompletter Schwachsinn war.

Resigniert seufzte ich. Schluss mit dem Träumen. Behutsam löste ich mich von ihm und verließ so leise wie möglich das Zimmer.

Ich nahm mir Zeit im Badezimmer. Während das kalte Duschwasser auf mich prasselte, kreisten meine Gedanken um den gestrigen Tag. Als ich Gilles gesagt hatte, dass ich ihn begleiten würde, hatte ich da gar keine Absichten gehabt. Ich wollte nur...bei ihm sein. Ich musste grinsen, als ich an seine eifersüchtigen Bemerkungen dachte, scheinbar war ich ihm doch nicht so egal, wie er immer vorgab und das fühlte sich verdammt gut an.

Trotzdem nagte auch das schlechte Gewissen an mir. Gilles hatte deutlich gemacht, dass er Abstand von mir wollte und statt das zu respektieren, stürzte ich mich geradezu auf ihn. Ich verhielt mich kein Stück wie jemand, der die letzten sechs Jahre damit verbracht hatte, aus seinen Fehlern zu lernen. Das musste aufhören. Ich wollte Gilles zeigen, dass ich nicht mehr der gleiche wie früher war, und das konnte ich nur erreichen, in dem ich endlich auf ihn hörte und ihn in Ruhe ließ. Und damit würde ich direkt anfangen.

Als ich fertig geduscht in die Küche trat, stellte ich überrascht fest, dass alle bereits auf den Beinen waren. Shea las wie üblich ihre Zeitung, Paul stopfte gierig Essen in sich rein und Brice starrte noch immer halbtot die Wand an. Und Gilles...nun, ich wusste nicht, was er da tat, da ich mich nicht traute, ihn anzusehen.

„Seid ihr wieder fit?", fragte ich Paul mit einem neckischen Grinsen. „Ach halt bloß die Klappe. Wir hatten einfach nur etwas zu viel Spaß, was Brice?" Der grummelte nur irgendetwas, das Bestätigung oder auch Widerspruch sein konnte.

„Aber du hattest ja auch Spaß. Wie ich von Shea gehört habe, hast du dir die Nummer von jemandem geklärt. Glückwunsch, ich konnte es fast gar nicht glauben." Ich warf ihm einen giftigen Blick zu. Er machte sich ständig über meinen Status als Dauer-Single lustig. „Hast du ihn denn schon angerufen?" Er schmierte sich ein weiteres Brot, während er interessiert auf meine Antwort wartete. „Nein." „Dann tu das bitte bald." Ich schnappte mir eine Schale, die ich mit Milch und Müsli füllte, während ich möglichst beiläufig antwortete: „Mal sehen." „Mal sehen", er schnaubte entrüstet. „Bitte Sam, als dein bester Freund fühle ich mich gelangweilt. Nie darf ich mir Liebeskummer oder Schmachten anhören und dir fachmännische Tipps geben." Dazu sagte ich nichts. Ich hatte keine Lust daran, jetzt vor versammelter Mannschaft zu analysieren, warum ich es nie so weit kommen ließ.

„Ein einziges Mal hast du mir von einem Typen erzählt und das ist jetzt auch schon...wie lange her? Bestimmt fünf, sechs Jahre." Alarmiert zuckte ich zusammen. Mit einem warnenden Blick versuchte ich Paul zum Schweigen zu bringen, aber er sah mich nicht mal mehr an. Im Gegensatz zu Gilles, dessen Blick ich nun überdeutlich spürte. „Hat der dir so sehr das Herz gebrochen?" „Paul." Ich wusste, dass er nur Spaß machen wollte und wäre die Situation eine andere, hätte ich das alles mit einem Augenrollen abgetan. Aber so...

„Du hast mir nie erzählt, was daraus geworden ist? War er deine große Liebe?" „Es reicht!" Erschrocken sah er mich an und auch Shea blickte, überrascht von meinem Ausbruch, von ihrer Zeitung hoch. „Sorry Mann", entschuldigend hob er die Hände, „ich wollte keinen wunden Punkt treffen." Resigniert fuhr ich mir übers Gesicht. Ich hatte ihn nicht so anfahren wollen, aber ich hatte Angst gehabt, was er sonst noch so ausgeplaudert hätte.

Ich stellte meine nun leere Schale auf die Spüle und ging ohne ein weiteres Wort aus der Küche. Kaum war ich in mein Zimmer gegangen, kam Paul mir direkt hinterher. „Tut mir leid Sam. Ich wollte dich nicht verletzten oder so." Ich vergrub das Gesicht in den Händen. „Das ist es nicht." „Ach nein? Was ist dann los?" Er setzte sich neben mich aufs Bett. „Ich fände es einfach gut, wenn du das nicht nochmal erwähnst." „Und wieso?", fragte er vorsichtig. Mein Blick schweifte ab und fiel auf meine Kissen. Da hatte eben noch Gilles gelegen.

„Weil dieser Typ Gilles war."

„Oh." Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch. „Oh." Er schwieg einen Moment, in dem er diese Information zu verarbeiten schien. „Wow, das erklärt einiges. Gleichzeitig stellen sich mir nun noch mehr Fragen." „Ich möchte nicht über ihn reden. Und du darfst es ihm gegenüber auch auf gar keinen Fall erwähnen, ja? Das ist alles etwas kompliziert." Beruhigend legte er mir die Hand auf die Schulter. „Wenn du das so willst, halte ich mich zurück. Aber du weißt, dass du immer mit mir reden kannst." Auch wenn er es nicht als Frage gemeint hatte, nickte ich trotzdem. Ich war dankbar für seine Freundschaft. Mit ihm über Gilles reden würde ich trotzdem nicht.

Ich liebte Shea. Das tat ich wirklich. Aber jetzt gerade machte sie es mir schwer.

Die letzten zwei Tage hatte sie sich komisch benommen. Mir war sofort klargewesen, dass sie mir etwas verheimlichte. Nun war sie mit der Sprache herausgerückt und ich war zum ersten Mal tatsächlich wütend auf sie. „Sei jetzt bitte nicht sauer. Ich habe eh schon ein schlechtes Gewissen." Das sah man ihr auch deutlich an. Mit eingezogenen Schultern und einem verzweifelten Gesichtsausdruck saß sie auf meinem Bett.

„Warum? Von dir hätte ich nicht mit so einem Vertrauensbruch gerechnet." Schuldbewusst zuckte sie mit den Schultern. „Es tut mir leid, ich hätte nicht lauschen sollen. Aber ich habe gehört, wie du Gilles erwähnt hast und dann war ich-" „Neugierig", beendete ich ihren Satz. Mir war schon jetzt klar, dass ich ihr nicht lange böse sein konnte. Shea hatte nun wirklich keine falschen Absichten gehabt. Trotzdem würde ich noch etwas weiter beleidigt sein, dass sie meine Privatsphäre verletzt hatte.

„Bitte bohr nicht nach", wies ich sie an. Natürlich hörte sie nicht darauf. „Vor fünf, sechs Jahren, hm? Das muss kurz vor deiner Inhaftierung gewesen sein." Mahnend zog ich die Augenbrauen hoch. Sie wusste, dass wir nicht über meine Vergangenheit sprachen. Bisher hatte sie sich auch immer darangehalten, selbst wenn ich wusste, wie neugierig sie immer war.

„Sam", sie griff nach meiner Hand, „ich sehe doch, wie angespannt du bist, seit dem Gilles hier ist. Und dann das letzt beim Frühstück, so bist du sonst nicht. Rede mit mir, friss nicht immer alles in dich rein. Dafür sind Freunde da. Ich werde dich nicht mit anderen Augen sehen, wenn du mir erzählst, warum du im Gefängnis warst." „Ich kann nicht, Shea." Heftig schüttelte sie den Kopf. „Doch. Du kannst und musst. Es macht dich doch total fertig, das alles mit dir rumzuschleppen."

Ihre Miene fror kurz ein. „Du hast ihn doch nicht vergewaltigt?" „Was? Nein!", wies ich das sofort ab. Mir entging nicht das kurze Zucken ihres Kiefers. Beruhigend streichelte ich mit dem Daumen über ihre Hand. Ich wusste genau, was ihr gerade durch den Kopf ging. Sheas Nicken wirkte nur halbherzig beruhigend. Sie hatte mir ihre Vergangenheit anvertraut und das, obwohl es ihr nicht leichtgefallen war. Vielleicht konnte ich ihr meine Vergangenheit ja doch anvertrauen. „Aber was ich ihm angetan habe, ist vermutlich genauso schlimm."

Fill me with poisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt