Sams Sicht
Ich musste träumen, ganz klar. Innerlich hatte ich mich schon damit abgefunden, dass ich ihn verloren hatte, aber jetzt...
„Scheiß Schwuchtel!" Abrupt fuhren wir auseinander. Ein Mann in einem schmierigen Hemd mit Bierflasche in der Hand war an uns vorbeigelaufen und drehte sich mit einem hasserfüllten Blick zu uns um. Augenblicklich ballte ich meine Fäuste. Ich wollte schon zu einer Erwiderung ansetzen, als Gilles mich am Arm zurückhielt: „Nicht, der ist es nicht wert, dass man ihm Aufmerksamkeit schenkt." Ich wollte ihm widersprechen, doch dann erkannte ich erschrocken, dass sich echte Angst in Gilles Auge verbarg. Sofort wollte ich jedem einen Denkzettel verpassen, der dafür gesorgt hatte, dass Gilles diese Angst hatte. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass der Typ bereits wieder abgezogen war. Besser für ihn.
„Alles okay?", behutsam strich ich ihm über Wange, ließ meine Hand dann allerdings ruckartig fallen. Nur weil er mich geküsst hatte, war schließlich noch immer nicht klar, was genau er jetzt wollte. Er nickte, aber sein Blick verfolgte noch immer die Silhouette des Mannes, obwohl diese schon fast außer Sichtweite war.
„Wollen wir zurück zu mir gehen, um zu reden?", fragte ich vorsichtig. Als er erneut nickte, fiel mir ein riesiger Stein vom Herzen, dabei kam da noch eine ganze Menge auf uns zu, das geklärt werden musste.
„Oh, welch absolut unvorhersehbare Wendung der Ereignisse." Shea stand mit verschränkten Armen und einem dicken Grinsen im Gesicht im Flur, als Gilles und ich die Wohnung betraten. Gilles warf mir einen irritierten Seitenblick zu. „Shea weiß Bescheid", erklärte ich ihm. „Ah", er nickte mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck. „Weiß sie alles?" Dieses Mal war es Shea, die antwortete: „Oh ja, alles. Inklusive der Sklavenhalter-Sache. Echt krasse Story werdet ihr da euren Kindern zu erzählen haben."
„Shea! Ich war doch kein Sklavenhalter!", maulte ich sie an, während ich versuchte, das Bild von Gilles mit einem kleinen Kind auf dem Arm, zu verdrängen. Der hingegen lächelte sie nur belustigt an. „Wie dem auch sei, ich lasse euch jetzt mal lieber allein. Ich werde die Nacht bei Riven verbringen, damit du mich ja nicht wieder vollheulst, ich hätte euch vom Sex abgehalten." Den letzten Teil sagte sie an mich gewandt und ich wollte gerne im Boden versinken, als ich sah, wie Gilles sich bei diesen Worten ruckartig mir zuwandte. „Habe ich gar nicht! Das...also..." Es war zwecklos, Shea war bereits durch die Tür verschwunden. Der überhebliche Ausdruck auf Gilles Gesicht gefiel mir gar nicht, weswegen ich lieber schnell etwas sagte, bevor er das konnte: „Äh ja, lass uns in mein Zimmer gehen zum Reden."
Ich hätte aufräumen können, fiel es mir ein, als Gilles sich auf meine Bettkante setzte und seinen Blick durch mein unordentliches Zimmerschweifen ließ, als wäre er zum ersten Mal hier. Angespannt blieb ich Mitten im Raum stehen. Okay, ich durfte das hier jetzt auf keinen Fall vermasseln. Eine weitere Chance würde ich sonst wohl nie wieder bekommen. „Ich hoffe, es war in Ordnung, dass ich Shea von unserer Vergangenheit erzählt habe? Sie hat es so aus mir rausgequetscht, es war-" „Schon gut, ich kann's mir denken, mich hat sie ja auch ständig belagert. Sie scheint kein sonderliches Problem damit zu haben, also alles gut."
Schweigen breitete sich aus. Gilles schien darauf zu warten, dass ich den Anfang machen würde. Das hatte ich auch vor, nur war das gar nicht so einfach und das, obwohl ich dieses Gespräch in Gedanken schon unzählige Male durchgegangen war. „Also gut. Was ich jetzt sage, hätte ich schon sehr - sehr - lange sagen sollen, also lass mich bitte ausreden.
Es tut mir leid. So sehr. Wobei das eigentlich Bullshit ist, denn was ich dir angetan habe, ist nicht zu entschuldigen. Ich habe jeden verdammten Tag der letzten sechs Jahre damit verbracht, zu bereuen, was für ein Arsch ich gewesen bin. Und mir zu wünschen, ich könnte zurückgehen und die Entführung verhindern. Niemand verdient so etwas und ich kann es absolut verstehen, dass du mich dafür den Rest deines Lebens verachten wirst-"
Ich hatte ihn zwar angewiesen, mich nicht zu unterbrechen, aber er tat es trotzdem. Dabei verbarg er zum ersten Mal seit langem nicht seine Gefühle, ich konnte den Schmerz ganz offen in seinem Gesicht sehen, als er mir mit ruhiger, aber bestimmter Stimme das Wort abschnitt: „Du musst dich nicht für etwas entschuldigen, für das du nicht verantwortlich bist." Perplex blinzelte ich. Hatte er Gedächtnisschwund? Er war doch dabei gewesen, vor sechs Jahren, er wusste doch, dass ich es war, der ihn in dieser Zelle festgehalten hatte. „Habe ich nicht schon damals versucht, dir das zu erklären? Dein Vater hat mich entführt. Klar, es war nicht richtig, dass du ihm geholfen hast, aber du warst noch minderjährig, hattest dir noch kein eigenes Leben aufgebaut, wolltest bei deinem einzigen Verwandten bleiben." „Das rechtfertigt gar nichts." „Vielleicht nicht. Aber Sam, dann hast du eben einen Fehler begangen, ja und? Dass du freiwillig ins Gefängnis gegangen bist, zeigt wohl mehr als deutlich deine Reue. Der Einzige, der dir vergeben muss, bist du selbst."
Mein Kopf kam nicht so schnell hinterher. Sollte das etwa heißen, dass er mich nicht wegen dem verachtete, was ich getan hatte? Hatte Shea etwa Recht? Zögerlich ließ ich mich neben ihn aufs Bett sinken und fragte mich unwillkürlich, ob ihn gerade das gleiche Deja-vú Erlebnis überkam wie mich.
„Wenn du mich nicht deswegen hasst, warum dann?" Er seufzte tief. „Ich hasse dich doch nicht." „Ach nein? Du hast dich aber so verhalten, als würdest du es...die meiste Zeit über zumindest." Es schien ihm zunehmend schwerer zu fallen, mir zu antworten, also blieb ich still und ließ ihm die Zeit, die er brauchte.
„Seit dem Tag vor sechs Jahren, als ich wieder nach Hause gekommen bin, ging so ziemlich alles für mich bergab. Das hatte ich gerade alles hinter mir gelassen und ich dachte, wenn ich dich in mein Leben lasse, würde ich auch wieder alle Schwierigkeiten einlassen." Meine Vermutung, dass seine vergangenen Jahre nicht die schönsten waren, hatte sich also bestätigt. Ich wünschte, ich hätte unrecht gehabt.
„Willst du mir davon erzählen?" Wieder sagte er eine Weile nichts. Doch dann griff er nach meiner Hand, die ich sogleich fest umschloss, damit er ja nicht auf die Idee kam, sie wieder loszulassen, und nickte.
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Fill me with poison
RomanceIch lachte kurz sarkastisch. ,,Mein Name bedeutet übersetzt Geisel, welch Ironie..." ,,Tja, mein Name bedeutet irgendetwas mit allein sein", antwortete er leise. Ich drehte mich so, dass ich ihn ansah. ,,Das bist du aber nicht", ich nahm seine...