Kapitel 10

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Sams Sicht

Verzweifelt suchte ich nach einem Fahrradständer. Das kleine Kaff, in dem wir momentan wohnten, besaß keine einzige Bahn und ich musste mit dem Fahrrad fünf Kilometer zur nächsten Station fahren. Nachdem ich irgendwann das Rad achtlos gegen einen Zaun gelehnt hatte - es würde sowieso keiner stehlen, so alt wie es war - rannte ich zum Gleis. Hastig presste ich mich durch die sich bereits schließenden Türen und eine Sekunde später setzte die Bahn sich bereits in Bewegung. Außer mir hatten noch viele andere vor in die Stadt zu fahren und so musste ich stehen. Eine Frau zog ängstlich ihr Kind näher zu sich, als ich an sie herantrat.

Nach dem die Bahn, sehr zu meinem Missfallen, alle paar Meter angehalten hatte, kam nun auch endlich meine Station. Ich hasste es, wenn die Leute draußen nicht einmal warten konnten, bis man ausgestiegen war. Ungestüm bahnte ich mir einen Weg durch die Leute und trat auf den Bürgersteig. Der Herbst machte sich langsam bereit. Vereinzelte Blätter waren schon verfärbt und der Wind wurde auch Tag für Tag stärker.

Ich lief zu den verschiedenen Läden, um meine Besorgungen zu erledigen. Beinahe hätte ich die Zigaretten für Dan vergessen, die seine Bedingung dafür gewesen waren, dass er heute Abend fütterte. Ein Schauer lief mir über dem Rücken, als ich daran dachte, dass ich dem Typen meinen Namen verraten hatte. Es musste sein, rief ich mir ins Gedächtnis. Das ungute Gefühl blieb trotzdem.

Nachdem ich fertig war mit meinen Einkäufen, steuerte ich auf ein Fastfood-Restaurant zu, um mir ein schnelles Abendessen zu besorgen, als mich plötzlich jemand von hinten ansprach: „Na, wen haben wir denn da?" Reflexartig spannte ich mich an. Diese Stimme war mir nur allzu gut bekannt. Ich drehte mich um und blickte in die selbstgefällige Miene von Damian Michaels. Sein Vater war ein ziemlich hohes Tier bei der Polizei und er nutzte das schamlos aus. Er wurde schon des Öfteren wegen Hausfriedensbruch oder Drogenmissbrauch drangenommen, aber nie bestraft - dafür sorgte sein Papi schon.

Als wäre das nicht Grund genug für meine Ablehnung ihm gegenüber, hatte er mir zusätzlich schon immer nachspioniert. Scheinbar schien er zu ahnen, dass bei mir etwas nicht im Argen war. Eigentlich hatte ich nach meinem Abschluss gedacht, ihn endlich los zu sein, aber anscheinend wurde mir dieser Wunsch nicht erfüllt.

„Und wie sieht's aus? Alles fit im Schritt?" Wow, hatte er das gerade wirklich gesagt? Das sagten doch nur 12-Jährige, die sich krass fühlen wollten. Wahrscheinlich war er mental noch auf diesem Level. „Ich hab' jetzt leider gar keine Zeit", wies ich ihn mit überspitzer Freundlichkeit ab. „Du wolltest dir etwas zu essen holen, richtig?", er deutete auf das Lokal vor uns, „Ich auch, wie schön." Oh ja, sehr schön!

Er folgte mir tatsächlich in das Lokal und stellte sich hinter mir an. Ich nahm ein Pizzabrötchen und eine Cola - gezwungenermaßen zum Mitnehmen. Ich sah nicht nach ihm, als ich den Laden verließ und versuchte, so schnell wie es ging, zu verschwinden. Leichter gesagt als getan, wenn die ganze Stadt voller langsam schleichender alter Menschen war. Eine der alten Damen setzte in diesem Moment mit kratziger Stimme zu einer Schimpftirade an, weil ich sie etwas unsanft zur Seite gedrängt hatte: „Na hören Sie mal. Junger Mann, so geht das nicht!" Wie aus dem Nichts tauchte Damian neben ihr auf und hörte sich ruhig ihre Beschwerden über mich an. Er erzählte ihr, sein Vater sei bei der Polizei und dass sie auf jeden Fall sich dort über mich beschweren solle. Weiter hörte ich seinem Bullshit nicht zu.

Auf der Heimfahrt war es glücklicherweise nicht mehr so voll und ich bekam sogar einen Sitzplatz. Gedankenverloren blickte ich aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Gebäude und bekam so zunächst gar nicht mit, dass sich ein Mädchen mir gegenüber hingesetzt hatte. Doch irgendwann konnten mir ihre offensichtlich anzüglichen Blicke nicht mehr entgehen. Wie alt war die bitte? Vielleicht 14?

Ich sah bewusst weg, um nicht den Eindruck zu erzeugen, ich hätte Interesse, doch trotzdem starrte sie mich unentwegt an und zwinkerte mir zu. Zwei Stationen später wurde der Platz neben mir frei und auch das Mädchen stand endlich auf.

Zu früh gefreut, sie setzte sich nämlich neben mich.
„Naaa, ich bin Sheyla und du?", plapperte sie munter drauflos. „Nicht interessiert", wies ich sie bestimmt ab. Doch sie verzog keine Miene. „Weißt du, ich war eben im Gym und was hast du so gemacht?" Ah, natürlich war sie im Gym gewesen. „Hör mal, ich bin bereits in einer Beziehung ok?!" Langsam wurde meine Stimme etwas schroffer, doch auch das schien sie nicht aufzuhalten, sie saß schon beinahe auf meinem Schoß. Ihre pinken Plastiknägel krallten sich in meinen Arm. Hilflos sah ich mich im Abteil um, doch die wenigen weiteren Anwesenden waren entweder in ihre Musik oder in Bücher vertieft. Wie sollte ich die bloß wieder loswerden?

„So wie du aussiehst, gehst du doch bestimmt auch oft ins Gym oder?" Ihre Stimme nahm einen schnurrenden Ton an und ich hatte endgültig genug. „Ich bin schwul klar?!" Ich war zwar weder in einer Beziehung, noch war ich schwul, aber irgendwie musste ich sie schließlich zum Schweigen bringen.

Perplex blinzelte sie mich ein paar Sekunden an. Doch sie fand ihre Sprache schnell wieder und verzog angewidert ihr Gesicht. „Bah, ist ja widerlich! Deswegen bist du so komisch. Oh Gott!" Wie gerne ich ihr gerade in ihr vollgepudertes Gesicht schlagen würde. Sie war einfach das Letzte.

Zum Glück kam nun endlich meine Station und erlöste mich von dieser unfreiwilligen Bekanntschaft. Aber bevor ich ausstieg, drehte ich mich noch einmal zu ihr: „Total schön, deine Bekanntschaft zu machen. Ich werde auf jeden Fall meinem Freund von dir erzählen."
Ihr Blick war unbezahlbar.

Fill me with poisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt