Kapitel 52

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Gilles Sicht

Perplex blinzelte ich einmal. Und noch einmal. Hatte ich ihn gerade richtig verstanden? Seinem verlegenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ja. „Ähh, ja." Warum klang meine Stimme so kratzig? Ich hatte mit diesem Typen beinahe geschlafen, da war so ein Tanz jetzt doch nun wirklich keine große Sache.

Aber oh, und wie er das war. Als seine Hand sich auf meinen Rücken legte, jagte mir ein Schauer durch den ganzen Körper. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und dann tanzten wir. Sam und ich tanzten zu einem der fucking kitschigsten Liebesliedern, die es gab. Könnte das mal jemand meinem 18-Jährigen Ich sagen? Der könnte es nicht glauben. Ich konnte es ja jetzt schon kaum glauben und ich war schließlich live dabei.

Unsere Blicke verhakten sich ineinander und ich hätte schwören können, die Welt blieb für einen Moment stehen. Da waren nur wir und die Musik. Die ganze Scheiße, die ich die letzten Jahre durchgemacht hatte, verblasste bei dem Blick in diese braunen Augen. „Ich kann's nicht glauben, dass wir das hier gerade tun", sprach er meine Gedanken aus. „Vor sechs Jahren dachte ich, dass ich schon mehr als genug Glück hatte, dich für einen kurzen Moment für mich haben zu können. Und jetzt sind wir hier." Sein Blick, sein Lächeln...und dann sagte er auch noch so etwas. Mein Herz zog sich zusammen. „Vor sechs Jahren hätte ich nie damit gerechnet, dass du mal derjenige von uns sein wird, der so kitschige Sachen sagt", raunte ich ihm zu, was ihm ein leises Lachen entlockte, ehe er sich vorbeugte, um mich zu küssen.

Als wir uns wieder voneinander lösten, nahm ich meine Hand aus seiner, um sie ihm auch noch um den Hals zu legen, während er nun beide Hände an meinen Rücken gelegt hatte. Langsam wiegten wir uns weiter im Takt der Musik. Ich merkte, wie sich das Lied so langsam dem Ende zuneigte, doch ich wünschte, es würde nie enden.

Dieses Mal traf mich die Erkenntnis nicht plötzlich. Und anders als vor sechs Jahren überraschte es mich auch kein Stück. Es fühlte sich viel mehr so an, als würde es etwas in mir an den rechten Fleck rücken und in mir wurde es ruhig, während ich versonnen den Mann anlächelte, den ich liebte.

„Ihr spinnt doch total!" Aufgebracht warf Shea ihre Hände in die Luft. Sam belächelte ihren Wutausbruch nur, ehe er ihr den Kartenstapel zuschob, damit sie vier Karten aufnehmen konnte. Es war mir schleierhaft, wie ein sonst so friedlicher Mensch sich beim Spielen in eine Furie verwandeln konnte. „Ist das der Dank dafür, dass ich mein Bestes getan habe, euch zu verkuppeln?" Sam und ich tauschten einen amüsierten Blick, diese Frage hörten wir heute Abend nicht zum ersten Mal, denn bereits die vorherigen Runden hatte Shea verloren.

„Keiner zwingt dich zu diesen Spieleabenden", wies ich ihr freundlich auf. „Ja, ja. Da will ich den Armen und Kriminellen etwas Gutes tun..." Mir entging nicht der Ausdruck, der über Sams Gesicht huschte. Fragend sah ich ihn an, aber er setzte schnell ein Lächeln auf und schüttelte den Kopf. Seltsam, Sheas Witze über seine Vergangenheit schienen ihn doch sonst nie zu stören. „Ich brauche eine Pause von euch. Aber wenn ich gleich wiederkomme, kommt die Rache!", stellte Shea klar, ehe sie in Richtung Badezimmer verschwand.

„Was ist los?", fragte ich Sam, sobald sie außer Hörweite war. Er fuhr sich durch die Haare und seufzte. „Es ist wegen Paul. Ich weiß nicht, ob ich ihm meine Vergangenheit - unsere Vergangenheit - länger verheimlichen möchte. Jetzt, da Shea es weiß, wäre es unfair, ihm die Wahrheit weiter vorzuenthalten. Und dass ich es Shea erzählt habe, hat mir die Augen geöffnet, wie falsch es eigentlich war, dass ich den beiden so etwas gravierendes überhaupt erst verschwiegen habe." Er wirkte bedrückt und es war offensichtlich, dass ihm das Thema zu schaffen machte.

„Wenn du denkst, dass du bereit dafür bist, dann versuch mit ihm darüber zu reden. Aber du solltest dich nicht gedrängt fühlen, er hat schließlich im letzten Jahr auch nicht das Gespräch darüber gesucht, also scheint es ihm nicht wichtig zu sein, ob er Bescheid weiß oder nicht." „Ja, aber er denkt vermutlich auch, dass ich vielleicht einen Bankraub oder so etwas begangen habe und nicht, dass ich ein Verbrechen an einem Menschen begangen habe." Gequält sah er mich an. „Was ist, wenn er mich hasst?" Seine Stimme klang so verzweifelt, dass ich nach seiner Hand griff, um ihn zu beruhigen.

Ein Räuspern lenkte unsere Blicke zur Tür. „Darf ich erfahren, worum es geht?" Sheas forschender Blick wanderte von unseren verschränkten Händen, zu Sams gequältem Gesichtsausdruck. Fragend blickte ich zu Sam. Kurz zögerte er, erzählte es ihr aber dann doch: „Ich überlege, Paul die Wahrheit zu sagen." „Welche Wahrheit? Dass du beim Karten spielen schummelst?" Ich warf ihr einen zornigen Blick zu, das war nun nicht der Moment für Scherze. Mein Blick entging ihr nicht, weswegen sie entschuldigend die Hände hochriss.

„Die Wahrheit, warum ich im Gefängnis war", stellte Sam klar. „Na dann, go for it!" Shea setzte sich zurück auf ihrem üblichen Platz, während sie Sam ein aufmunterndes Lächeln schenkte. „Aber was ist, wenn er danach nichts mehr mit mir zu tun haben will, ich möchte euch nicht verlieren." „Du möchtest uns", unterbrach sie ihn entrüstet, „nicht verlieren?! Sam, ich weiß doch schon davon und es hat nichts zwischen uns geändert. Und wenn Paul jetzt auf die dämliche Idee kommen sollte, er möchte nie wieder mit dir sprechen, wenn er es erfährt - wovon ich übrigens nicht ausgehe - dann ist das sein Problem. Seine Reaktion hat doch nichts mit unserer Freundschaft zu tun!" Er runzelte zweifelnd die Stirn, überzeugt schien er noch immer nicht.

Ich konnte verstehen, dass ihm das nicht leichtfiel. Natürlich war es nicht ohne, einem Freund so etwas anzuvertrauen und so gerne ich Sam auch das Gegenteil versichern wollte, konnte man natürlich nicht mit Sicherheit sagen, wie Paul reagieren würde. Schließlich konnte nicht jeder Mensch so gelassen reagieren wie Shea. Kurz landeten meine Gedanken bei meiner Familie. Es war nun schon so viel Zeit vergangen, seitdem ich das letzte Mal mit ihnen geredet hatte. Wenn ich ehrlich war, vermisste ich sie schon manchmal. Aber ein Blick auf Sam und meine Zweifel wurden wieder kleiner. Wenn meine Eltern mir mein Glück nicht gönnten, dann hatten sie auch kein Platz in meinem Leben verdient.


Während des Schreibens von dem letzten und diesem Kapitel habe ich "A groovy kind of love" so oft rauf und runter gehört, dass es nun in meinem Spotify Wraped für 2023 gelandet ist hehe

Fill me with poisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt