Sams Sicht
Sechs Jahre später
,,Ein Cappuccino für Celine?" Abwartend blickte ich zu der Menschentraube hinüber, die sich vor der Theke gebildet hatte. Die üblichen Verdächtigen waren dabei: ein paar Geschäftsleute, die sich einen schnellen Energie-Kick für die Mittagspause holten - wobei das gar keine richtige Pause zu sein schien, denn sie waren ständig am Telefonieren - die Skater-Kids, die gestressten Eltern, die daran verzweifelten, ihre Kinder unter Kontrolle zu halten. Und nicht zu vergessen, die allseits präsenten Touristen, zu denen scheinbar auch Celine zählte. Mit einem übertriebenen Lächeln nahm sie ihr Getränk entgegen und bedankte sich mit einer sehr grausigen Aussprache bei mir. War das th wirklich so schwer für Ausländer?
Aber ich konnte es mir nicht leisten, unfreundlich zu den Kunden zu sein, also setzte ich mein Arbeitslächeln auf und wünschte ihr einen schönen Tag. Dann kam die nächste Bestellung und die nächste und die nächste. Immer wieder landete mein Blick auf der Uhr und irgendwann war es dann tatsächlich so weit und ich konnte Feierabend machen.
Ich rief Shawn, meinem Kollegen, eine kurze Verabschiedung zu, aber er ging gar nicht darauf ein und füllte nur weiter Becher. Alles wie immer also. Ich hasste Shawn wie die Pest. Er war unfreundlich, zu mir wie auch zu den Kunden, roch ausnahmslos immer ungepflegt und steckte sich viel zu viel Trinkgeld ein. Trotzdem war es immer nur ich, den unsere Chefin auf dem Kieker hatte - das Schicksal eines ehemaligen Inhaftierten.
Auf meinem Weg zur Bushaltestelle wurde ich ganze vier Mal von Touristen angerempelt, die nicht auf ihre Umgebung achteten. Sie waren auch der Grund, warum ich Bus statt Fahrrad fuhr, obwohl das viel schneller gehen würde. Dabei sollte ich mich gerade heute beeilen, denn es war Sheas Geburtstag und sie wollte mit Paul, Brice und mir Pizza bestellen. Doch das interessierte den Verkehr natürlich kein Stück und so brauchte der Bus mal wieder 40 Minuten bis Little Havana.
Ich hetze die Stufen zu unserer kleinen Wohnung hoch und merkte noch vor unserer Tür, dass Brice und Paul natürlich schon da waren. Ich hörte Pauls Lachen und Brice tiefe Stimme und widmete mich innerlich schon mal den hasserfüllten Blicken von Brice, die mit großer Wahrscheinlichkeit gleich folgen würden. Er verstand einfach nicht, wie Paul immer noch mit mir befreundet sein konnte und mich sogar seiner Cousine als Mitbewohner angedreht hatte, nachdem ich im Gefängnis gewesen war.
Ganz ehrlich ich verstand es oft auch nicht. Paul wusste nicht einmal mehr, weswegen ich gesessen hatte und doch benahm er sich, als wäre ich nicht fünf Jahre wie vom Erdboden verschluckt gewesen, nur um ihm dann aus heiterem Himmel zu eröffnen, dass ich im Gefängnis gewesen war. „Wenn es nur fünf Jahre waren, kann es kaum schlimmer sein, als das, was wir früher so angestellt haben", sagte er immer scherzhaft. Wenn das doch nur so wäre. Aber ich war auch dankbar, einmal natürlich für die Wohnung, doch auch dafür, dass er mich im gesamten vergangenen Jahr nicht einmal gedrängt hatte, zu erzählen, was geschehen war. Denn ich hatte damit abgeschlossen und wollte dieses Kapitel meines Lebens zurücklassen und alles, was dazu gehörte.
„Na sieh mal einer an, mein Mitbewohner lässt sich doch noch blicken!" Grinsend sprang Shea mir entgegen und zog mich in eine Umarmung, kaum dass ich durch die Tür gekommen war. Auch Paul umarmte mich kurz, wir hatten uns bereits einige Wochen nicht mehr gesehen. Von Brice wurde ich ignoriert - natürlich - aber das war immerhin besser als giftige Blicke.
„Ich war so frei und hab dir schon das übliche mitbestellt." Beim Sprechen klemmte Shea sich eine ihrer Haarsträhnen hinters Ohr. Aktuell waren sie dunkelblau - wie das Meer, wenn es nicht von den Menschen beschmutzt werden würde - und seit heute Morgen scheinbar auch kurz, denn als ich die Wohnung verlassen hatte, waren sie ihr noch bis zur Brust gegangen, wohingegen sie jetzt kurz vor ihren Schultern endeten. ,,Oh, ich danke dir." Ich wandte mich um, um mich noch schnell in meinem Zimmer umzuziehen, bevor das Essen kam, drehte mich dann aber doch nochmal zu ihr: „Übrigens deine Haare - liebe ich!"
Natürlich musste ich am nächsten Morgen verschlafen. Ausgerechnet auf einem Donnerstag, wo immer mal wieder unsere Chefin reinschneite für einen Kontrollbesuch. Shea, die zu meinem Glück wachgeworden war und mich geweckt hatte, drückte mir schnell einen Toast in die Hand, denn sie hasste es, wenn ich ohne Frühstück die Wohnung verließ.
Wir hatten gestern einen wirklichen schönen Abend zusammen verbracht und bis spät in die Nacht miteinander gelacht. Tja, das war wohl eine schlechte Idee, wenn ich am nächsten Tag Frühschicht hatte. Ich beeilte mich so sehr und doch waren bereits zehn Minuten meiner Schicht um, als ich hinter die Theke trat. Und natürlich war auch gerade heute meine Chefin da. Doch sie war zum Glück gerade damit beschäftigt, Sarah, unsere neuste Kollegin anzumaulen. In jedem anderen Fall hätte ich sofort mit ihr gelitten, doch heute war ich einfach nur dankbar, dass sie so erstmal abgelenkt war.
Doch mein Zuspätkommen blieb nicht ganz unbemerkt. Genervt drückte Shawn mir einen Becher in die Hand. „Wenn du schon zu spät kommst, mach dann wenigstens auch deinen Job und steh nicht dumm rum." Wie ich das Arbeitsklima hier doch liebte! Ohne mir die Mühe zu machen, etwas zu erwidern, griff ich nach dem Becher und füllte das darauf angegeben Getränk hinein. Einen Kaffee könnte ich jetzt auch echt gut vertragen, aber da ich gerade erst gekommen war und meine Chefin eh schon schlechte Laune zu haben schien, ließ ich es besser bleiben. Prinzipiell war es uns nicht verboten, uns ab und an einen Kaffee zu gönnen, aber es schien eine ungeschriebene Regel zu sein, dies nicht vor der Chefin zu tun.
Ich rief nach Louis, für den der Becher bestimmt war. Währenddessen schien unsere Chefin ihre Schimpftirade beendet zu haben und ich nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie sie nun auf mich zusteuerte, weswegen ich mich schleunigst dem Kunden zuwandte.
Und dann blieb die Welt auf einmal stehen.
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Fill me with poison
RomanceIch lachte kurz sarkastisch. ,,Mein Name bedeutet übersetzt Geisel, welch Ironie..." ,,Tja, mein Name bedeutet irgendetwas mit allein sein", antwortete er leise. Ich drehte mich so, dass ich ihn ansah. ,,Das bist du aber nicht", ich nahm seine...