Kapitel 54

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Sams Sicht

Als Gilles mir erzählt hatte, dass sein Zimmer eine ehemalige Abstellkammer war, hätte ich mir einen mickrigen Raum mit kaum Platz vorgestellt, aber tatsächlich war das Zimmer größer als mein eigenes, war in einem petrol-Ton gestrichen und wirkte trotz der bisher eher spärlichen Möblierung sehr einladend. Allgemein hatte er hier wirklich eine schöne Wohnung gefunden. Es war kein Wunder, dass sein Mitbewohner sich die Miete, jetzt da seine Exfreundin ausgezogen war, nicht mehr allein leisten konnte. Trotzdem hätte ich es auch gut gefunden, wenn er noch weiter bei uns wohnen würde.

„Was denkt du, wie lange Paul sich Zeit nimmt?" Wir lagen in seinem Bett, beide müde von Rivens Geburtstagsfeier, auf der wir bis eben gewesen waren. Natürlich war es Shea gewesen, die uns dorthin gezwungen hatte. „Es ist doch gerade mal einen Tag her, dass ich mit ihm gesprochen habe. Sei geduldig." „Das sagst gerade du", schnaubte ich, während ich daran denken musste, wie er heute beinahe ausgeflippt war, als die Bahn fünf Minuten Verspätung hatte.

„Ja, das sage ich, als die weise Stimme der Vernunft von uns beiden." Mein Lachen hallte durch den Raum. „Warum lachst du mich aus? Ohne meine glorreichen Entscheidungen würden wir jetzt hier nicht liegen. Schließlich war ich es damals gewesen, der mit aller Mühe versucht hat, ein Gespräch zu führen." „Ohne meine glorreichen Entscheidungen", warf ich ein, „hätten wir uns gar nicht erst kennengelernt. Schließlich war ich es damals gewesen, der dich entführt hat." Einen Moment schien er angestrengt darüber nachzudenken. „Touché. Ich würde sagen, Gleichstand."

In letzter Zeit lachte er wieder deutlich öfter und schien glücklicher zu sein. Das beruhigte mich ungemein, denn in der ersten Zeit, die er bei uns gewesen war, hatte ich mir große Sorgen um seine mentale Gesundheit gemacht. Trotzdem haderte ich schon seit längerer Zeit damit, mit ihm über sein Essverhalten zu sprechen. Zwar hatte ich auch hier in letzter Zeit festgestellt, dass er wieder deutlich mehr aß, aber ich wollte lieber sicher gehen, ob es wirklich keinen Grund für mich gab, mir Sorgen zu machen. Leider hatte ich gar keine Erfahrungen mit so etwas und war mir deswegen unsicher, wie ich das Gespräch angehen sollte.

„Gilles? Da ist etwas, über das ich noch mit dir reden wollte." „Hmm?" Er lehnte seinen Kopf auf meine Brust, um mich anzusehen. „Ich will jetzt kein Thema aufreißen, dass dich eventuell zu sehr belastet, also sag, wenn du nicht darüber reden möchtest." Verwirrt hob er seinen Kopf wieder an und richtete sich auf. „Jetzt machst du mir etwas Angst." Ich setzte mich ebenfalls auf. „Wegen deines Essverhaltens...Ich...Muss ich mir Sorgen machen?"

Stille nahm den Raum ein. Angespannt wartete ich seine Reaktion ab. Er nahm sich Zeit mit seiner Antwort und auch sein Gesichtsausdruck gab keinen Aufschluss darüber, was er gerade dachte. Vermutlich hätte ich es anders angehen sollen, sicherlich war ihm das zu direkt gewesen.

„Ich hätte damit rechnen sollen, dass dir das nicht entgeht", sagte er schließlich, „dass ich Gewicht verloren habe, ist schließlich nicht zu übersehen." Er zog eine Grimasse, währen er an sich heruntersah. „Tut mir leid, ich hätte das nicht ansprechen sollen." „Nein", winkte er ab, „ist schon gut. Es zeigt, dass du dir Sorgen gemacht hast, und darüber sollte man ja schließlich in einer Beziehung offen reden können." Augenblicklich biss er sich auf die Lippe. Wir hatten noch immer nicht darüber gesprochen, was genau wir waren. „Ich meine, also ähh", stammelte er unbeholfen, ehe er einen ergebenen Seufzer ausstieß, „ach, das hier ist doch eine Beziehung oder nicht?" Fragte er mich gerade, ob ich sein fester Freund sein wollte? Die Schmetterlinge waren zurück - und da waren eine Menge von ihnen. Noch nie war mir eine Antwort so leichtgefallen: „Ja, das ist es."

Das Lächeln kam zurück auf seine Lippen, ehe er unser ursprüngliches Thema wieder aufgriff: „Mit dem Essen ist das so eine Sache bei mir. Als ich eine Zeitlang weniger Geld hatte, war Essen keine Selbstverständlichkeit mehr. Und jetzt ist es so, dass ich es manchmal als Belohnung sehe, etwas essen zu können und wenn es sich gerade so anfühlt, als würde ich keine Belohnung verdienen, verbietet mein Kopf mir, etwas zu essen." Er zuckte mit den Schultern, als wäre das hier keine große Sache. „Es gibt bessere und schlechtere Phasen. Aktuell ist das keine große Sache, aber manchmal fängt das aus dem nichts wieder an. Es wird nie so richtig schlimm, aber im Nachhinein merke ich schon immer, dass es mir nicht gutgetan hat."

Ich nahm mir einen Moment Zeit, um diese Information zu verarbeiten. Also hatte ich mit meiner Vermutung recht gehabt - ich wünschte, es wäre nicht so. „Was kann ich tun, um dir zu helfen?" Zärtlich griff er nach meiner Hand. „Du tust schon eine Menge. Es geht mir besser, seitdem du wieder in meinem Leben bist und das hilft. Aber ansonsten muss ich das allein durchstehen. Und das werde ich. Ich arbeite zumindest daran." „Ich wünschte, ich könnte mehr tun. Wenn du professionelle Hilfe brauchst, dann-" „Nein, nein. Ich war damals, nach der Entführung bei einer Psychotherapeutin und das war Bullshit", unterbrach er mich sogleich energisch. Gerne wollte ich ihm sagen, dass er vielleicht nicht alle über einen Kamm scheren sollte, weil er einmal nicht so gute Erfahrungen gemacht hatte, aber für dieses Gespräch würden wir auch noch ein andern Mal Zeit haben.

„Na gut. Ich will nur, dass es dir gut geht. Und deswegen werde ich dich unterstützen und so gut für dich da sein, wie ich kann. Weil...", ich musste kurz Luft holen. Nicht weil ich zögerte oder Angst hatte. Sondern aus dem Grund, dass meine Gefühle mich zu überwältigen drohten. Wir war es bloß möglich, so viel für einen Menschen zu empfinden? „Weil ich dich liebe."

Das Lächeln, mit dem ich für diese Worte belohnt wurde, war so aufrichtig und glücklich, dass ich nicht anders konnte, als sein Gesicht in meine Hände zu nehmen und ihn zu küssen. Es war ein Kuss voller Leidenschaft und Verlangen. Trotzdem lehnte sich Gilles nach kurzer Zeit wieder zurück. Mit einem beseelten Lächeln strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht - ich sollte wirklich mal wieder zum Friseur gehen. „Ich liebe dich auch." Und auf einmal wurde es so ruhig in mir drinnen, wie seit...wie vielleicht nie zuvor. Hier war genau der Ort, an den ich gehörte, bei Gilles. Und die Unruhe, die mich die letzten Jahre nie ganz losgelassen hatte, sie war schlagartig verschwunden.

„Wehe, du kommst nochmal auf die Idee, mich zu verlassen." Seine Stimme war leise und auch wenn er dabei lächelte, spürte ich die leichte Angst, die in seinen Worten mitschwang. „Nein", versicherte ich ihm, „ganz sicher nie wieder."

Und dann küssten wir uns wieder. Augenblicklich entfachte ein Feuer in mir. Was machte er bloß mit mir? Begierig zog ich ihn nah an mich, so nah ich konnte, und er rutschte auf meinen Schoß, wie er es schon so viele Male getan hatte. Aber es war nicht genug, ich wollte mehr. Mehr von ihm. Ich wollte...

Ich löste mich von ihm, um ihm in die Augen zu sehen. „Gilles, ich will mit dir schlafen." Er zog beinahe unhörbar die Luft ein. „Du musst das nicht. Wenn du noch nicht bereit bist-" „Gilles", unterbrach ich ihn so gleich, „ich meine es ernst. Ich will es."

Fill me with poisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt