Kapitel 7

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Gilles Sicht

Ich konnte mit großer Sicherheit sagen, dass der Typ mich hasste. Ich jedenfalls wäre absolut genervt von mir gewesen.

Aber irgendwie musste ich schließlich die Sprache aus ihm rausquetschen. Vielleicht würde er sich dann dazu erbarmen, mir ein paar Informationen zu geben. Irgendetwas das mir vielleicht hier raushelfen könnte. Ich redete mir ein, dass das der einzige Grund war. Und das nicht etwa ein weiterer Grund war, dass seine Stimme göttlich klang. Denn das wäre ein sehr dummer Grund in Anbetracht der Tatsache, dass er mich entführt hatte.

Zwar hatte ich ihm heute nur zwei Worte entlocken können, aber das war besser als keins und man konnte sich schließlich immer steigern. Ich stellte mir selbst daher die Herausforderung, nun immer mehr Wörter aus ihm herauszuquetschen.

Und die Chance dazu war schon früher gekommen als erwartet, denn als es endlich Zeit für meine Mittagspampe war, brachte er diese.

,,Wie heißt du? Für den anderen ist mir ein Spitzname eingefallen, aber bei dir bin ich ideenlos. Es wäre also vorteilhaft, wenn du mir deinen richtigen Namen sagst." Unwahrscheinlich, dass er darauf antwortete, aber irgendwie musste ich anfangen und ich hatte keine besseren Ideen. Außerdem entsprach es der Wahrheit, dass mir kein Name für ihn einfiel. Er erinnerte mich, anders als Biggie, an keinen Rapper und sein Aussehen gab auch keine Ideen. Dunkelbraune Haare, dunkle Augen, groß, grimmiger Gesichtsausdruck und schlichte, ebenfalls dunkle, Kleidung. 'Der dunkle Mensch' klang ja wohl scheiße, also kein Name bisher.

Als er an mir vorbei zum Tisch ging, stieg mir deutlich der Geruch von Zigaretten in die Nase. ,,Uwa du rauchst. War ja klar, das macht deinen knallharten Badboy-Look vollständig." Er ließ seinen Blick für einen kurzen Moment auf mich fallen. ,,Hier." Er legte den Leinenbeutel, den ich ihm letztens zugeworfen hatte, auf den Tisch.

,,Schon wieder ein Wort, wir werden noch die besten Freunde!", entgegnete ich voller Enthusiasmus, den er kein bisschen zu teilen schien. „Und nochmal wegen deines Namens, mir reicht dein erster, den zweiten will ich gar nicht wissen, dann kannst du wieder nur ein Wort sagen."
Den letzten Teil des Satzes hatte er gar nicht mehr mitbekommen, er war schon wieder gegangen.

Ich hatte Warten schon immer gehasst, aber das hier war eine ganze neue Ebene. Die alles ausfüllende Stille, die Isolation, die Einsamkeit. Das alles nährte die Panik, die tief in mir brodelte. Doch jedes Mal, wenn ich eine Panikattacke aufkeimen spürte, machte ich Sport. So lange, bis ich vor Erschöpfung fast umfiel und dann ging ich duschen, um mich an meinen Vorsatz zu halten, die Panik nicht durchgreifen zu lassen.
Langsam hatte ich mich sogar etwas an den widerlichen Geschmack des Essens gewöhnt und nachdem ich bereits sechs Nächte - zumindest von denen ich wusste - auf der Liege geschlafen hatte, nahm ich auch die Rückenschmerzen nicht mehr so stark wahr.

Biggie hatte ich noch nicht wieder gesehen. Der Typ, dessen Name ich immer noch nicht wusste und für den ich immer noch keinen Spitznamen hatte, war nun scheinbar dauerhaft dafür zuständig, mir die Essenspampe vorbeizubringen. So wie jetzt gerade. Die Tür, die, wie ich herausgefunden hatte, mit einem Fingerabdruck-Sensor funktionierte, öffnete sich und mir wurde mein Abendessen serviert.

Mittlerweile hatte ich aufgehört, unaufhörlich auf ihn einzureden, ich bekam ja doch keine Antwort. Deswegen hatte ich meine Strategie geändert und war nun dazu übergegangen, ihn einfach nur anzustarren und ihn in Gedanken zu beschwören, etwas zu sagen. Doch dieses Mal traf mich dabei eine Erkenntnis. Etwas an seinem Gesicht erinnerte mich an den Mann, der das Video von mir aufgenommen hatte. „Du bist der Sohn oder zumindest ein Verwandter von dem Mann mit der Kamera richtig?" Er stoppte kurz in seiner Bewegung, hatte sich aber schnell wieder gefasst und legte den Leinenbeutel mit gewaschenen Klamotten auf den Tisch.

Ah, eine Reaktion. Ich gluckste leise: „Wie willst du's bloß schaffen, ein Polizeiverhör zu überstehen, wenn man dich so schnell aus der Fassung bringen kann?" Mit hochgezogener Augenbraue sah er mich an. „Was mich aus der Fassung bringt, ist dein unaufhörliches Versuchen mich zu nerven, ich würde dir liebend gerne eine klatschen."

Zum Glück hatte ich noch nichts aus der Wasserflasche in meiner Hand getrunken, ansonsten wäre der Inhalt nun wahrscheinlich auf den Boden gespuckt worden. Ich war mir nicht sicher, ob ich halluzinierte oder ob er gerade tatsächlich mehr als ein Wort mit mir geredet hatte. Das war schließlich unmöglich.

„Ich denke, wenn dir die Tatsache, dass ich sprechen kann, die Sprache verschlagen hat, bist wohl eher du derjenige, der schnell aus der Fassung zu bringen ist." Abschätzig wanderte sein Blick über mich, ehe er auch schon wieder ohne ein weiteres Wort verschwand.

Mist, ich hätte irgendetwas schlagfertiges erwidern sollen. Jetzt fühlte es sich nämlich an, als hätte er gewonnen, bei einem unbewusst gestarteten Wettstreit.

Hatte er gerade tatsächlich mit mir geredet?

Es hatte lange niemand mehr mit mir geredet. Das letzte Mal war es, als ich bei der Aufnahme des Videos Anweisungen bekommen hatte. Okay, das war gerade einmal wenige Tage her, aber hier drinnen schien die Zeit endlos. Außerdem konnte man das wohl kaum als ordentliches Gespräch bezeichnen.
Ich hatte mich nie daran gestört, allein zu sein. Mehr noch, ich hatte es meist vorgezogen, mich zu distanzieren. Natürlich ging ich gerne und viel auf Partys oder traf mich mit Freunden, aber zuhause verschanzte ich mich oft in meinem Zimmer.
Doch jetzt war es anders. Dieses ständige Alleinsein machte mich fertig. Vielleicht zwei Minuten des Tages verbrachte ich in Gesellschaft, doch auch dann sprach ja eigentlich niemand mit mir. Wenn man so lange allein war, hatte man viel zu viel Zeit, über alles Mögliche nachzudenken. Zum Teil hatten meine Gedanken mich schon selbst erschreckt.

Abrupt stand ich von der Liege auf und lief im Kreis. Wut keimte in mir auf. Warum holten meine Eltern mich hier nicht endlich raus? Ich ballte meine Fäuste, wollte irgendwo gegen schlagen. Das wäre eine dumme Idee, ich wollte schließlich Ruhe bewahren.

Aber zum Teufel mit der Ruhe! Ich saß hier schon seit Tagen fest, ohne jeglichen Hoffnungsschimmer auf meine Befreiung. Und meine blöden Sportübungen konnten mich auch nur für eine kurze Zeit ablenken.

Mit voller Kraft rammte ich meine Hand gegen die harte Wand. Ich nahm den Schmerz, der von meiner Hand ausging, nur entfernt wahr. Rote Tropfen fielen auf den Boden. Mein Unterbewusstsein teilte mir mit, dass dies mein Blut war. Aber auch das nahm ich gar nicht richtig wahr.

Ein zweites und drittes Mal schlug ich auf die Wand ein. Der Schmerz in meiner Hand war brutal geworden, es störte mich trotzdem nicht. Mein ganzer Körper stand unter Strom, ich fühlte mich wie im Rausch.
Ich war wütend auf diese Zelle, meine Entführer, meinen Vater, mich selbst und eigentlich auf alles.

Doch so schnell, wie die Wut gekommen war, ließ sie auch wieder nach. Mein Rausch ebbte auf einmal ab und ließ mich zurück mit einem bestialischen Schmerz in meiner Hand.
Ich brach zusammen. Verzweifelt lag ich auf dem Boden. Versuchte zu Atmen. Doch ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Die Wände wirkten auf einmal um ein vielfaches beengender.
Das alles war viel zu viel für mich. Ich fühlte mich so verloren. Und verdammt allein.

kleiner Sidefact: dass dieses und das letzte Kapitel gleich beginnen, war ursprünglich gar nicht geplant. Es ist mir erst beim Überarbeiten aufgefallen hehe

Fill me with poisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt