Kapitel 5

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Gilles Sicht

Mit einem Schrei fuhr ich hoch. Unkontrolliert hämmerte mein Herz gegen meinen Brustkorb und lies mich heftig ein- und ausatmen. Ich fuhr mir mit einer zittrigen Hand durch die Haare und versuchte, meinen Körper wieder zu beruhigen. Diese Nacht war der absolute Horror. Erst hatte ich gar nicht vor, zu schlafen, aber ich war so müde, dass ich praktisch keine andere Wahl hatte. Und nun schreckte ich schon zum tausendsten Mal aus dem Schlaf.

Die Wände kamen mir auf einmal so bedrängend vor. Bebend stand ich von der Liege auf und ging ein paar Schritte. Ich könnte jetzt echt eine kalte Dusche gebrauchen. Misstrauisch sah ich mir die Dusche in der Ecke an und drehte sie vorsichtig an. Zu meiner Überraschung kam tatsächlich klares Wasser heraus, zwar eiskalt, aber genau das wollte ich schließlich.

Ich warf meine Klamotten in eine Ecke und stellte mich unter den Wasserstrahl. Normalerweise war ich ein absoluter Warmduscher, aber jetzt war mir die Kälte nur recht. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Betonwand und schloss die Augen. Ich wollte hier weg. Einfach nur zurück in mein Bett, mein eigenes. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Alles hier war so surreal. Aber das eisige Wasser, das sich in meine Haut stach, bewies mir, dass das hier die Wirklichkeit war.

Nach und nach verlangsamte sich mein Gedankenkarussel, bis ich irgendwann wieder halbwegs ruhig war. Ich stellte den Hahn ab und nahm das einzige Handtuch, dass sich im Raum befand. Mehr schlecht als Recht trocknete ich mich ab und band es mir dann um die Hüften. Ich bückte mich, um mein T-Shirt vom Boden aufzuheben, ließ es aber sofort wieder fallen, als mir der Geruch, der davon ausging, bewusst wurde. Unmöglich konnte ich dieses Shirt noch einen weiteren Tag anziehen. Resigniert sah ich mich im Raum um. Wenn es hier ein Handtuch gab, dann gab es doch sicherlich auch... Da! Ein Beutel unter dem Tisch fiel in mein Blickfeld.

Mein Wunsch wurde erhört, er enthielt tatsächlich diverse Kleidungsstücke. Nach der kalten Dusche könnte ich ein wenig Wärme gebrauchen und zog so einen Pulli mit einer der beiden Jogginghosen an. Sobald ich die Sachen anhatte, wurde mir bewusst, dass ich nicht die erste Person war, die diese Kleidungsstücke trug. Sie rochen zwar frischgewaschen, aber da war auch noch ein anderer Geruch, ein persönlicher. Zum Glück war die Unterwäsche noch eingepackt...

Es waren keine 24 Stunden vergangen, seitdem ich hier war, und schon jetzt machte mich das Nichts-Tun verrückt. Nachdem ich gefühlt eine halbe Stunde sinnlos im Kreis rumgelaufen war, setzte ich mich wieder auf das Bett. Meine Fluchtmöglichkeiten hatte ich bereits ausgekundschaftet. An das Fenster kam ich nicht heran, selbst wenn ich den Tisch darunter stellte. An der Tür hatte ich mich gar nicht erst nochmal versucht. Tja, und das war es dann auch schon wieder. Keine sehr rosigen Aussichten waren das.

Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür. Der Typ von gestern Abend trat hinein. Er würdigte mich erneut keines Blickes, während er meinen leeren Teller durch einen mit Brot und Wurst ersetzte. Wow, heute mal ein Festmahl. Schon wollte er wieder verschwinden, aber ich hielt ihn zurück: ,,Ey du, warte mal!" Er drehte sich genau in dem Moment um, als ich ihm meine in den Leinbeutel gepackte Kleidung zuwarf. Reflexartig hob er die Hand und fing ihn auf. Nicht schlecht.
Es war das erste Mal, dass er mich ansah. Sein Blick war intensiv, er wirkte bedrohlich. Naja, er war Teil einer Entführung, ob er bedrohlich war, stand also außer Frage.
,,Könnten mal gewaschen werden." Ich bedachte ihn mit einem frechen Grinsen, aber er zeigte keine andere Reaktion, als dass er sich wieder umdrehte und ging. Da er kein Messer gezückt hatte, verbuchte ich das jedoch als Erfolg.

Nachdem meine letzte Nacht der pure Horror gewesen war, lautete meine neue Strategie: Verdrängung. Panik brachte mich hier so oder so kein Stück weiter. Sie würde nur mein rationales Denken blockieren und das brauchte ich hier drinnen auf jeden Fall. Also klammerte ich mich an die Hoffnung, dass das alles bald vorbei war und verhielt mich einfach wie immer.

Auch nachdem ich das Brötchen vertilgt hatte, knurrte mein Magen noch. Ich legte mich auf das Bett, aber die grelle Morgensonne, die durch das Fenster in der Decke hineinschien, hinderte mich am Einschlafen. Und das obwohl ich hundemüde war.

Ich war gerade dabei, die Blätter an dem Baum zu zählen, den ich durch das Fenster sehen konnte - ich war schon bei 241, hatte mich aber auch dreimal verzählt und musste so ein paarmal neuanfangen - als die Tür sich wieder öffnete. Nanu, war es schon wieder Zeit für die Mittagspampe?

,,Ah Biggie, mein Lieblingsfütterer." Komischerweise teilte er meinen Enthusiasmus nicht. ,,Mitkommen, Kleiner." Sein Ton ließ keine Widerrede zu. Sofort sprang ich auf, um ihm zu folgen, doch bevor wir den Raum verließen, sah er mich nochmal eindringlich an. ,,Versuch gar nicht erst abzuhauen, ok?" Ich grübelte noch, ob das eine rhetorische Frage gewesen war, als er sich schon wieder umgedreht hatte und durch die Tür verschwand. Mit leichtem Zögern folgte ich ihm. Was, wenn die mich jetzt foltern oder sogar töten wollten? Nein, das wäre doch zu unrealistisch...oder?

Gespannt sah ich mich außerhalb des Raums um, aber hier sah es einfach nur genauso heruntergekommen aus. Unwirsch schubste mich Biggie voran. Wir liefen einen nur wenig beleuchteten Flur entlang, der in einer Treppe endete, die wir nun hinunter gingen. Hier unten war das Licht schon etwas heller. Ich sah in einige Räume hinein, die meisten waren leer oder bis obenhin voll mit Müll. Für einen kurzen Moment wollte ich einfach losrennen und versuchen, zu verschwinden, aber den Versuch verwarf ich direkt wieder. Ich kannte mich in diesem Gebäude nicht aus und wer wusste schon, was draußen auf mich wartete. Trotzdem prägte ich mir so viel wie möglich ein. Das konnte mir vielleicht noch hilfreich sein.

Als wir dann schließlich einen Raum betraten, fühlte ich mich wie bei einem der Fotoshootings, die ich regelmäßig mit und manchmal sogar ohne meinen Vater hatte. In der Mitte des Raumes befand sich eine weiße Leinwand, davor zwei Scheinwerfer und eine Kamera. Biggie schubste mich leicht voran, weil ich erstaunt stehen geblieben war.

Ein Mann tauchte hinter der weißen Leinwand auf. Ich würde sagen, er war ungefähr so alt wie mein Vater. Er beäugte mich kurz und nickte Biggie dann zu, der mich daraufhin in Richtung Leinwand dirigierte. „Knie dich da hin." Er deutete auf den Boden vor der Leinwand. Verdattert sah ich ihn an. Er seufzte als er bemerkte, dass ich nicht vorhatte mich zu bewegen und drückte mich auf den Boden.

Aufmerksam verfolgte ich, wie er leise mit dem anderen Mann zu diskutieren begann. Sie waren abgelenkt, was mich zur Tür schielen ließ. Vielleicht, wenn ich ganz schnell war...Genau in dem Moment, wurde sie zugeschlagen. Der schweigsame Typ betrat den Raum und lehnte sich an die Wand.

„Kleiner, du wirst da jetzt schön brav sitzen bleiben und dich für fünf Minuten nicht bewegen, klar soweit?" Biggie sah mich an und wartete wahrscheinlich auf so etwas wie eine Bestätigung, dass ich das, was er gerade gesagt hatte, auch verstanden habe. Aber ich beäugte nur angespannt die Geräte hinter ihm, um irgendetwas ausmachen zu können, das mir gefährlich werden könnte, weswegen ich ihm nicht antwortete. Ich vernahm ein Schnauben aus Richtung der Tür: „Klappe halten und Sitzenbleiben, so schwer zu verstehen?"

Fill me with poisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt