Kapitel 41

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Gilles Sicht

Ich konnte immer noch nicht fassen, dass ich das tat. Sam führte mich in die erste Etage eines großen Gebäudes und steuerte auf die letzte Tür des Flures zu. Wir hatten auf dem ganzen Weg kein Wort gesprochen, aber mir fiel auf, dass er aus irgendeinem Grund zunehmend nervöser wurde.

Als wir vor der Tür standen, klingelte er nicht direkt. Stattdessen warf er mir einen schuldbewussten Blick zu. „Eventuell gibt es da etwas, das du vorher noch wissen solltest." Statt weiterzusprechen, griff er in seine Tasche. Und zog einen Schlüssel heraus.

Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Noch bevor er den Schlüssel einmal im Schloss umgedreht hatte, schüttelte ich heftig den Kopf. „Willst du mich verarschen? Auf. Gar. Keinen. Fall!" Unbeirrt öffnete er die Tür und trat mitsamt meiner Tasche in die Wohnung ein. Das war also sein Ernst. Warum um alles in der Welt dachte er, er es sei eine kluge Idee, mich bei ihm wohnen zu lassen?!

Ich wollte erneut meinen Widerspruch einlegen, doch jemand kam mir zuvor: „Sam? Bist du da? Ich muss dir unbedingt etwas erzählen! Heute Morgen war ich ja auf der Demo gewesen und weißt du-" Eine junge Frau trat in mein Sichtfeld. Sie trug eine Handvoll Piercings, eine Shorts und ein Top und ihre blauen Haare hatte sie zu einem unordentlichen Dutt hochgesteckt. Es war offensichtlich, dass sie nicht mit Besuch gerechnet hatte.

,,Oh, ich wusste nicht, dass du nicht allein bist. Wie unhöflich von mir." Sie kam auf mich zu und zog mich zu meiner Überraschung in eine kurze Umarmung. ,,Hey, ich bin Shea, freut mich, dich kennenzulernen!" Das klang so aufrichtig, dass ich erstmal etwas zu überrumpelt von ihrer Nettigkeit war, als dass ich etwas erwidern hätte können.

,,Das ist Gilles", übernahm Sam für mich. ,,Und warum bittest du Gilles nicht rein?" Vorwurfsvoll sah sie ihn an und zog mich dann am Arm durch die Tür. „Zwei Zuhörer sind noch besser, dann erfahren noch mehr, was mir heute Unglaubliches passiert ist!" ,,Eigentlich wollte ich-", fing ich an, wurde aber sofort von Sam unterbrochen. ,,Eigentlich, wollte ich dich etwas fragen, Shea." Sie ließ sich aufs Sofa fallen und sah ihn erwartungsvoll an. „So? Bitte sag mir, du möchtest mich endlich fragen, ob ich dich mit zu einer Demo nehme. Die Antwort lautet: Ja, ja und nochmal ja." ,,Nun, das war nicht ganz das, was ich fragen wollte - aber wenn du ja sagst, werde ich sicherlich mit dir auf eine Demo gehen, ganz egal welche." Er dachte also tatsächlich immer noch, dass ich hier wohnen wollte. Verzweifelt suchte ich nach einem Weg, diese Wohnung auf dem schnellsten Weg zu verlassen, ohne Shea gegenüber unhöflich zu sein, sie strahlte so viel Nettigkeit aus, dass ich ihr gegenüber unmöglich unhöflich sein konnte.

,,Man geht nicht einfach auf ganz egal welche Demo," genervt verdrehte sie die Augen ,,man demonstriert für Dinge, die einem am Herzen liegen! Aber, du hast mein Interesse geweckt. Lass hören." „Gilles braucht für einige Zeit eine Bleibe. Ich hätte an unsere Couch gedacht." Mit einem Kopfnicken deutete er auf ebendiese. Jetzt wurde es aber wirklich höchste Zeit, dass ich mich einschaltete: ,,So schlimm ist es nicht, ich kann-" „Was hast du verbrochen? Bist du ein Krimineller?", fragte Shea mich mit todernster Miene, ohne auf meinen Einwand zu achten. Sam reagierte mit einem ungläubigen Schnauben: „Shea!" ,,Ähh, ich..." Und wieder unterbrach sie mich: „ Ich mach doch nur Spaß, keine Sorge. Klar kannst du bleiben. Auch wenn du was verbrochen hast. Ich hab einen Faible für Findelkinder aus dem Knast." Den letzten Teil sagte sie mit Blick auf Sam und streckte ihm danach die Zunge raus, was er mit einem grinsenden Kopfschütteln quittierte.

Die Situation überforderte mich maßlos. Sie wusste, dass Sam im Gefängnis gewesen war...wusste sie auch weshalb? Wusste sie auch, wer ich war? Vermutlich nicht, sonst hätte sie doch sicher anders reagiert, als Sam ihr meinen Namen verraten hatte.

,,Das ist wirklich nicht nötig. Danke für das Angebot, aber ich komme klar." Mein Dank galt allein Shea, ich hoffte, dass das Sam bewusst war. ,,Papperlapapp. Du bleibst. Punkt. Keine Widerrede." Hilflos sah ich dabei zu, wie Shea mir meine Sachen abnahm und sie neben dem Sofa drapierte. Auch Sam stellte meine andere Tasche daneben. Mein neuer Mitbewohner...das konnte doch alles nicht wahr sein.

Shea hatte gekocht, was bedeutete, dass ich nun mit ihr zusammen essen musste. Ich hatte weder Hunger noch Lust auf Gesellschaft, aber das wollte ich ihr nicht sagen, denn sie hatte mir ihre Nudeln mit so viel überschwänglicher Begeisterung versucht schmackhaft zu machen, dass ich einfach nicht nein sagen konnte. Scheinbar schien ich ihr nie etwas abschlagen zu könne - das stellte sich zu einem ernsthaften Problem heraus.

Diese WG war mir viel zu sozial. In den 24 Stunden die ich nun hier war, hatte sich mich bereits mehrmals gefragt, ob wir nicht mal was zusammen etwas unternehmen wollten oder ob wir mit Sam einen Film- oder Spieleabend machen wollten. Ganz sicher nicht. Ich befürchtete, meine Ausreden und vage Versprechungen, das alles irgendwann mal zu tun, würde sie nicht mehr lange schlucken. Da vermisste ich das Zusammenleben mit Dean sehr, bei dem das Zusammen sehr kurz ausgefallen war.

Mühsam versuchte ich, mir einen Bissen nach dem anderen reinzuwürgen. Der Geschmack war nicht das Problem, Essen an sich war einfach mein Problem. Shea hingegen aß so gierig, als hätte sie seit Tagen nichts gehabt. Nach einiger Zeit merkte ich, dass sie mir immer wieder Blicke zuwarf, als würde sie etwas sagen wollen, aber ich dachte nicht daran, der erste zu sein, der das Schwiegen brach. Das fehlte mir noch, eine richtige Unterhaltung zu führen.

„Warum magst du Sam nicht?" Erschrocken verschluckte ich mich an meinen Nudeln. Wow. Ich hätte gedacht, sie wollte jetzt vielleicht mit mir über eine ihrer Demos reden, auf die sie ständig zu gehen schien oder über - was weiß ich - das Wetter oder so. „Äh. Er hat mir doch angeboten, hier zu wohnen, warum sollte ich ihn nicht mögen?", versuche ich mich rauszureden. Bloß weg vom Thema Sam. „Hilfe kann man auch von Menschen annehmen, die man hasst", erwiderte sie mit einem Schulterzucken. Wie sollte ich bloß aus dieser Unterhaltung fliehen?

„Klar, Sam hat so seine Macken, wie jeder halt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass keine davon so schwerwiegend ist, dass du nicht mehr mit ihm redest." Ich würde einfach gar nicht antworten, das schien mir die beste Lösung zu sein. Mit größtem Interesse fing ich also an, in meinen Nudeln rumzustochern, aber Shea ließ einfach nicht locker: „Ach komm schon, Gilles! Ich verrate ihm auch nichts, ich schweige wie ein Grab. Ich bin doch nur sooooo neugierig." Als ich noch immer nicht antwortete, schien sie fieberhaft nach einer neuen Strategie zu suchen, mir Informationen zu entlocken, denn sie verzog angestrengt das Gesicht. Größtenteils genervt, aber auch zu einem Stück neugierig, wartete ich ab.

„Wir machen einen Deal; du erzählst mir, was zwischen euch vorgefallen ist und dafür höre ich auf, dich mit Fragen nach Spieleabenden zu belästigen. Tu nicht so, ich weiß, dass du dir immer nur Ausreden ausdenkst." Den letzten Teil schob sie als Antwort auf meine gespielt überraschte Grimasse hinterher. So verlockend dieses Angebot auch war, ich würde ihr doch niemals erzählen können, was sie wissen wollte. „Wie wäre es mit diesem Deal: Du fragst mich nicht mehr nach Sam und dafür können wir einmal in der Woche einen Spieleabend oder Filmabend oder whatever machen." Wenn ich Glück hatte, fand ich so schnell wie möglich eine neue Bleibe - ganz weit weg von Sam - und dann musste ich mir das vielleicht nur ein paar Mal antun.

Einen Moment lang schiensie ihre Optionen abzuwägen, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Einmal die Wocheist zu wenig, wenn man bedenkt, wie gravierend scheinbar die Informationbezüglich eurer Vergangenheit ist. Das ist kein fairer Kompromiss. Zweimal inder Woche." Innerlich verdrehte ich die Augen. Auch das noch. Aber gut, wennsie dann endlich aufhörte, nachzubohren. Also willigte ich ein und auf SheasLippen stahl sich ein Grinsen, das eine ganze Zeit lang nicht mehr verschwand.

Fill me with poisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt