Kapitel 39

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Sams Sicht

Das konnte nicht sein. Ich musste Halluzinationen haben. Oder das waren die Nachwirkungen des Schlafmangels. Vielleicht spielte mein Gehirn mir auch einfach nur einen Streich, denn der Typ vor mir sah ihm eigentlich gar nicht so ähnlich. Er war dünn, hatte einen Buzzcut und trug ausgewaschene Klamotten. Doch seine Augen...das waren seine. Der Ruck, der durch seinen Körper ging, als unsere Blicke sich trafen, bestätigte meine Vermutung. Er hatte mich auch erkannt. Einen Moment - oder eine Ewigkeit - starrten wir uns einfach nur an. Das Café mitsamt allen Personen schien zu verblassen. Da war nur er.

Plötzlich durchbrach er den Blickkontakt, drehte sich um und verließ hastig das Café, ohne sich seinen Becher genommen zu haben. Mein Kopf hinkte immer noch etwas hinterer. War das wirklich gerade passiert? Ich sah ihn draußen die Straße überqueren und da erwachte auch endlich ich aus meiner Starre. Das war wirklich passiert. Ich dachte keinen Moment darüber nach, sondern sprang einfach über die Theke, um ihm zu folgen. Verschreckt sprangen die Kunden, die in unmittelbarer Nähe gestanden hatten, zur Seite und starrten mich irritiert an.

Ich hatte schon beinahe die Tür erreicht, als ich meine Chefin schreien hörte, was zum Teufel ich tun würde. Doch ich blickte nicht einmal mehr zurück, sondern hastete hinaus in die überfüllte Fußgängerzone. Suchend blickte ich mich um, er konnte doch noch nicht so weit gekommen sein. Und ja, dort hinten sah ich ihn, wie er verzweifelt versuchte, eine Gruppe von alten Leuten mit Einwegkameras zu passieren. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viel Dankbarkeit für die Touristen hier empfunden. Ich holte zu ihm auf, doch kaum, dass ich ihn erreicht hatte, hatte er es auch schon geschafft, sich einen Weg durch die Touristen zu bahnen. Keine Sekunde ließ ich ihn aus den Augen, ignorierte dabei die hupenden Autos, als ich die Straße überquerte und das schreiende Kind, das ich scheinbar angerempelt hatte. Was wollte ich überhaupt sagen, wenn ich ihn eingeholt hatte? Keine Ahnung, darüber musste ich mir Gedanken machen, wenn es so weit war.

Was noch eine ganze Weile dauern würde, wenn er weiterhin so ein Tempo vorlegte. Doch dann bog er auf einmal in eine kleine Seitenstraße ein. Bitte, lass es eine Sackgasse sein. Als ich ebenfalls in die Straße einbog, stieß ich einen erleichterten Seufzer aus. Falls es tatsächlich einen Gott gab, war Er mir in diesem Moment scheinbar wohlgesonnen.

Er rannte noch ein Stück vor mir her, ehe er einsehen musste, dass es keinen Sinn hatte und erschöpft keuchend zum Stehen kam. Auch ich verlangsamte mein Tempo. Mein Herz raste und das lag ganz sicher nicht am Rennen.

„Gilles."

Ein undefinierbares Gefühl durchzuckte mich, als ich seinen Namen aussprach. Sechs Jahre war es her, seitdem ich ihn zum letzten Mal ausgesprochen hatte. Sechs Jahre, in denen ich damit beschäftigt gewesen war, jede Erinnerung an ihn zu verdrängen.

Scheinbar war ich dabei nicht sonderlich erfolgreich gewesen, denn kaum, dass ich seinen Namen aussprach, war es, als kämen mit einem Schlag alle Erinnerungen auf einmal zurück.

Beim Klang seines Namens war er zusammengezuckt, als wäre ihm dann erst aufgefallen, dass ich da war. Er sagte nichts, sah mich nicht einmal mehr an. Was tat ich hier eigentlich? Nach sechs Jahren, in denen ich jeden verdammten Tag gezwungen war, mit dem zu leben, was ich ihm angetan hatte, sahen wir uns zum ersten Mal wieder und mir fiel nichts Besseres ein, als ihm - offensichtlich gegen seinen Willen - hinterherzurennen? Das war ja mal wieder eine Glanzleistung von mir. Doch ich hatte keine Wahl gehabt. Ich musste mit ihm sprechen, wenigstens nur noch dieses eine Mal.

„Gilles, ich...also. Ähh." Ich war noch immer zu geschockt, als dass ich einen vollständigen Satz hervorbringen konnte. Gilles blieb weiterhin stumm. Wie hypnotisiert starrte er auf die Wand des Gebäudes, neben dem wir uns befanden. Erst jetzt nahm ich richtig wahr, wie mitgenommen er aussah. Er war nicht nur dünn, sondern regelrecht abgemagert, unter seinen Augen waren tiefe Schatten und seine Haut war unnatürlich blass. In mir schrillten die Alarmglocken. Was war mit ihm passiert?

,,Geht es dir gut?" Was für ein beschissener Gesprächsbeginn. Das fand scheinbar auch Gilles, denn er warf mir einen abwertenden Blick zu. ,,Was geht's dich an?" Ich war zu beschäftigt damit, nicht auszuflippen, weil ich das erste Mal seit Jahren seine Stimme hörte, weswegen seine abweisende Antwort mir vollkommen egal war. ,,Ich...es tut mir leid. Es tut mir alles-" Aufgebracht machte er ein paar Schritte auf mich zu, so dass ich verstummte. ,,Lass es. Lass. Es. Ich will das nicht hören. Ich will gar nichts von dir hören, okay? Ich bin die letzten sechs Jahre ohne dich klargekommen, ach was, eigentlich bin ich schon mein ganzes Leben ohne dich klargekommen! Ich brauche und will dich nicht in meinem Leben, also lass mich verdammt nochmal in Ruhe und renn mir nicht hinterher!"

Damit hätte ich rechnen sollen. Hatte ich eigentlichauch. Und doch tat es so unglaublich weh, das von ihm zu hören. Aber das hatteich zu respektieren. Ich hatte absolut kein Recht irgendetwas von ihm zuverlangen, schon gar nicht seine Vergebung. Also tat ich das einzig richtige indieser Situation, ich trat zur Seite. Ich trat zur Seite, um ihm den Weg freizumachenund ihn nicht weiter einzukesseln. ,,Du hast recht. Es war falsch, dirhinterherzurennen. Ich sollte dich in Ruhe lassen." Ich blickte zu Boden, umihn nicht ansehen zu müssen, wenn er an mir vorbeilief. Er sagte kein Wort undging einfach davon. Einfach so.

Fill me with poisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt