Kapitel 11

170 9 1
                                    

Gilles Sicht

Da verriet er mir seinen Namen und kam nicht wieder. Naja ok, es war erst eine Mahlzeit vergangen, das war also vielleicht etwas voreilig.

Dann konnte ich heute eben Biggie auf die Nerven gehen: „Der andere hat auch mit mir gesprochen, du könntest das also ruhig auch machen." Er sah mich überrascht an und innerlich lobte ich mich selbst dafür, dass ich heute bei beiden solche Fortschritte gemacht hatte. Ihn zum Reden zu bringen, schaffte ich zwar noch nicht, aber auch bei ihm würde ich nicht aufgeben. Aber fürs Erste musste ich diesen Plan vertagen, denn er ließ mich schnell wieder allein.

Missmutig griff ich nach dem Essen. Als ich sah, dass es heute Spaghetti gab, rastete ich vor Freude fast aus und nahm mir vor, das ausgiebig zu genießen. Als ich allerdings einen Bissen nahm, hätte ich ihn am liebsten sofort wieder ausgespuckt. Derjenige, der das zubereitet hatte, musste aber ganz schön verliebt gewesen sein, das Essen bestand quasi nur aus Salz. Aber eine Alternative hatte ich schließlich nicht und so blieb mir nichts anderes übrig, als das Essen trotzdem hinunterzuwürgen.

Mir war sterbenslangweilig. Mein tägliches Workout hatte ich bereits, soweit es ohne meine rechte Hand möglich war, hinter mir und geduscht hatte ich auch schon. Jetzt saß ich auf meinem Bett und überlegte, welches Oberteil ich anziehen sollte. Die spannendste Abwechslung in meinem Leben war doch aktuell tatsächlich die Auswahl meines Outfits. Die Shirts und der Hoodie waren ganz schön oversized, die Jogginghose dagegen war nur leicht zu groß. Den Hoodie liebte ich irgendwie. Ich trug sonst nie Oversized und ich fragte mich mittlerweile warum. Und rot stand mir sowie so schon immer. Also fiel die Entscheidung wieder auf den Pullover.

Gerade als ich ihn mir wieder überzog, betrat Sam den Raum. Ein undefinierbarer Ausdruck huschte über sein Gesicht, als er mich sah. Doch er wandte sich schnell ab und stellte die Sachen auf den Tisch. „Ist was?", hakte ich nach. Er schüttelte zwar den Kopf, aber glauben tat ich ihm das nicht. „Hab' ich irgendetwas im Gesicht oder so? Wäre nett, wenn du mir das sagen würdest, es gibt hier ja leider keinen Spiegel drinnen." Mit einem Seufzer, der, wenn ich mich nicht irrte, leicht amüsiert klang, rückte er schließlich doch mit der Sprache heraus: „Mir ist nur gerade aufgefallen, dass meine Klamotten dir wohl sogar besser stehen als mir."

Entgeistert starrte ich ihn an. Das waren seine?! Wieso war ich nicht schon früher darauf gekommen? „Das erzählst du mir jetzt erst?!" Er zuckte die Schultern, auf die gleiche überhebliche Weise wie immer. „War witziger so." Ah natürlich, ich diente hier ja nur der Bespaßung.

Etwas unschlüssig stand ich immer noch mitten im Raum. Den Pullover hatte ich noch nicht ganz übergezogen. Aber jetzt war es doch eigentlich eh zu spät, so oft wie ich den schon angehabt hatte, dachte ich mir, zog ihn dann ganz an und beschloss, den Spieß umzudrehen. Er schien, für seine Verhältnisse, ziemlich gute Laune zu haben, also konnte ich mit meinen Provokationen heute wohl etwas weiter gehen.

„So so, du findest also, ich würde darin gut aussehen." Mit hochgezogener Augenbraue sah ich ihn stolz an. Was er konnte, konnte ich ja wohl schon lange. Er verdrehte nur die Augen und deutete dann auf meine achtlos auf den Boden geworfenen Sachen: „Du bist es wahrscheinlich gewohnt, dass dein Personal das alles erledigt, aber wenn du willst, dass ich deine Sachen mitnehme, musst du sie schon noch aufheben." „Du denkst auch, ich wär' komplett verwöhnt", murmelte ich, während ich die Sachen rasch aufhob und in den Beutel stopfte. „Das seid ihr reichen Gören doch alle", kam es ungerührt von ihm zurück. Langsam wurde ich etwas gereizt. „Du kennst mich doch gar nicht!" „Glaub mir, wenn du wüsstest, wie viel ich über dich und dein Leben wissen, wärst du ziemlich verschreckt."

Den Sinn seiner Worte verstand ich erst ein paar Augenblicke später. Diese Leute kannten mich. Sie hatten mich Wochen, vielleicht sogar über Monate beobachtet. Das war mehr als unheimlich. Beunruhigend schluckte ich.

Positive Gedanken, Gilles.

„So verwöhnt bin ich gar nicht ok?!" Daraufhin zählte er mir sämtliche Angestellte unserer Familie auf. Ich musste ihn irgendwann unterbrechen. Nicht, weil ich zugeben wollte, wie verwöhnt ich wirklich war, sondern weil sich mir der Magen umdrehte, da er all diese Menschen kannte.

„Wie habt ihr mich eigentlich hier herbekommen?" Ich hatte ein wenig Hoffnung, dass er mir heute ein paar Dinge erzählen würde. Außerdem war meine Neugier einfach nicht zu bändigen. „Oh das werde ich garantiert nicht sagen. Aber deine kleine Freundin war uns eine große Hilfe, hat dich ganz schön abgefüllt." Ich würde Aramina umbringen, wenn ich wieder zurück war. „Brauchst ihr keine Vorwürfe machen, wir hätten das auch ohne ihre Vorarbeit geschafft." Ich fuhr mir aufgebracht durch die Haare. Er redete hier über meine Entführung - eine Straftat - mit einer Leichtigkeit, als ginge es um irgendetwas völlig banales. Das machte mich fertig.

„Komme ich hier auch mal raus? Vielleicht mal frische Luft schnappen? Nicht das ich hier drinnen eingehe." Ich versuchte meine Stimme wieder etwas zu beruhigen. Sam deutete auf die Tür. „Die geht nicht ganz bis auf den Boden, hier kommt also Luft rein. Würden wir das Fenster öffnen", jetzt deutete er nach oben, „würdest du wohl abhauen und nein, du Genie, wir lassen dich natürlich nicht einfach mal eben eine Runde spazieren gehen." Ich schnaubte: „Oh tut mir leid, dass ich keinerlei Erfahrungen damit habe, entführt zu werden. Ihr hättet euch wohl jemand aussuchen sollen, der das bereits kennt, dann müsstest du nicht deine kostbare Zeit damit verschwenden mir das Anfängerwissen beizubringen."

Ich dachte, jetzt würde er wieder einen fiesen Kommentar abgeben, aber zu meiner Überraschung fing er an zu lachen. So richtig, nicht nur eine Sekunde. „Sorry Mann, du bist echt witzig. Du benimmst dich wie so'n bockiges verwöhntes Kleinkind...Obwohl, das bist du ja auch." Ich gab es auf, ihn zu berichtigen. Sollte er doch über mich denken, was er wollte.

„Ich hab' vergessen, einen neuen Verband mitzubringen, mach ich dann heute Mittag. Brauchst du auch nochmal die Salbe?" „Ich dachte, das hier", ich hob meine verpackte Hand an, „wäre der einzige Verband, den du gefunden hast?" „Ich war gestern in der Stadt, hab direkt den Medizinschrank aufgefüllt, war mal nötig", erklärte er. „Also, wie sieht's aus mit der Salbe?" Der Schmerz in meiner Hand war immer noch da, aber ich nahm ihn nicht mehr so stark war, nur noch bei Bewegung. Da ich den Verband nicht abgenommen hatte, wusste ich nicht wie es mit den Abschürfungen aussah. „Ich bring sie einfach mit, sah ja ziemlich mies aus", nahm er mir die Entscheidung ab.
Er schnappte sich den Beutel und ließ mich mit einem „Bis dann" wieder allein zurück.

Verrückt. Hätte ich es mir jemals vorgestellt, entführt zu werden, hätte ich das sofort mit Gewalt und Schmerz, vielleicht sogar Folter oder ähnlichem verbunden. Doch stattdessen führte ich zum Teil halbwegs normale Konversationen mit einem der Typen, der Teil der Entführer war. Zumindest so normal, wie es in dieser Situation nun mal möglich war.

Fill me with poisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt