Kapitel 45

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Gilles Sicht

Zu meiner Überraschung machte der Tag heute mir wirklich Spaß. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal mit so einer großen Gruppe unterwegs gewesen war - und vor Allem einer bei der ausnahmslos alle super nett waren. Gerade unterhielt ich mich mit Riven und Will und nicht einmal hatte ich das Bedürfnis verspürt, mich aus der Unterhaltung zu flüchten. Die beiden kannten Shea vom Fechten. Als ich das hörte, war ich wieder einmal verblüfft von ihr, dieser Mensch war einfach faszinierend.

Und sie war beliebt. Alle sprachen ausnahmslos gut von ihr und es wurde deutlich, wie gerne sie alle hatten. Ich konnte es verstehen, an Shea gab es nicht viel, was man nicht mögen konnte.

„Du könntest ja mal mitkommen, Gilles. Fechten macht echt total viel Spaß und wir freuen uns immer über Neuzugänge." Aufmuntert lächelte Riven mich an, aber ich zog eine entschuldigende Grimasse. „Ich weiß nicht, ob so ein kontrolliertes Kämpfen etwas für mich ist, ich steh eher auf Boxen." Dey lächelte ungerührt weiter. „Du kannst es dir ja nochmal überlegen."

Ich setzte zum Sprechen an, wurde dann aber von etwas abgelenkt, dass ich hinter Riven sah. Dort stand Sam und er war nicht allein. Ein Typ stand bei ihm und lachte gerade über etwas, das Sam gesagt hatte. Jetzt zog Sam sein Handy aus der Tasche und gab es dem Typen, der darauf etwas eintippte. Das war dann wohl seine Handynummer. Grimmig wandte ich den Blick ab. Es ging mich schließlich nichts an, was Sam so trieb. Oder mit wem er es trieb.

Auf einmal verspürte ich große Lust, zur Wohnung zurückzugehen. Ich hatte keine Lust mehr, weiter zu feiern. Leider konnte ich Shea nirgendwo sehen. „Hey ihr zwei, wisst ihr vielleicht, wo Shea gerade ist?" Aber Riven und Will wussten es auch nicht und so blieb mir wohl nichts anderes übrig, als Sam nach seinem Schlüssel zu fragen. Ich verabschiedete mich von den beiden und lief zu Sam, der immer noch bei diesem Kerl stand. Das war also sein Typ. Er hatte schwarze Haare, einen dunklen Hautton und war ein einziges Muskelpaket. Das Gegenteil von mir, wie ich feststellte.

„Kann ich den Schlüssel haben?" Irritiert brach Sam mitten im Satz ab. Der andere Typ musterte mich interessiert, sagte aber nichts. „Äh, was? Achso. Willst du schon gehen?" Ich nickte. „Dann komme ich mit." „Das musst du nicht." Mit ihm zusammen zu gehen, war nun wirklich das Letzte, was ich wollte. „Ich komme trotzdem mit." „Ich werd's wohl noch schaffen, allein zu gehen!", pflaumte ich ihn an.

Es störte mich, dass dieser Typ noch immer hier war und neugierig von mir zu Sam starrte. Der drehte sich jetzt zu ihm. „Es war schön, dich kennengelernt zu haben. Ich rufe dich morgen dann an!" Dann umarmte er ihn. Musste das jetzt sein? Ich wollte doch los. „Na dann komm", sagte er an mich gewandt, als sie es endlich schafften, sich voneinander loszureißen. Die kannten sich doch maximal fünf Minuten, da musste man jetzt nicht so übertreiben.

Bis wir bei der Wohnung ankamen, sagte keiner von uns ein Wort. Sam brach das Schweigen schließlich: „Und, hast du dich gut amüsiert heute?" Ich brummte zustimmend. „Du scheinbar auch." „In der Tat." Er hielt mir die Tür offen und trat dann nach mir ein. „Dann vergiss mal nicht, diesen Typen morgen anzurufen." „Keine Sorge", er lächelte mich übertrieben an, „das werde ich schon nicht vergessen." „Gut." „Gut", wiederholte er.

„Ihr scheint euch ja gut unterhalten zu haben." Warum konnte ich es nicht einfach sein lassen? Aber nein, ich konnte einfach nicht den Mund halten. „Das haben wir auch." Sam drehte sich um, so dass wir uns gegenüberstanden. „Er war wirklich nett. Wir werden uns bestimmt nochmal treffen." Ich nickte abschätzig. „Hast du damit etwa ein Problem?" Er verschränkte seine Arme und sah mich abwartend an.

„Nein, wieso? Geht mich ja nichts an, mit wem du dich triffst." Er trat noch einen Schritt auf mich zu. „Ganz genau, dich geht es nichts an. Nicht mehr." Ein leichtes Zusammenzucken konnte ich mir bei seinen letzten Worten nicht verkneifen. Wir redeten nicht über damals, warum kam er jetzt so an? „Entschuldige bitte, das darf ich ja nicht sagen." Seine überhebliche Miene ließ mich die Zähne knirschen.

Schweigend starrten wir uns an. Ich hatte keine Lust, ihn schon wieder zurechtzuweisen, aber er schien auch nicht bereit dazu, es sein zu lassen. Die Anspannung zwischen uns war nahezu greifbar und Erinnerungen flackerten auf, an einen Moment vor sechs Jahren, an dem wir uns ähnlich nahe gegenübergestanden hatten. Unwillkürlich musste ich musste ich auf seine Lippen schauen. Was ein großer Fehler war, denn das weckte nur noch mehr unerwünschte Erinnerungen.

Wie ich feststellte, war auch Sams Blick auf meine Lippen gerutscht. Die Alarmglocken schrillten in meinem Kopf. Das war hier alles gerade nicht gut. Als sein Blick wieder meinen fand, schien die Welt kurz anzuhalten. Angespannt hielt ich die Luft an.

Und dann bewegten wir uns plötzlich beide gleichzeitig aufeinander zu. Ein Beben fuhr durch mich, als meine Lippen auf meine trafen. Auf einen Schlag war alles wieder da, alles, was ich so akribisch verdrängt hatte. Automatisch fuhren meine Hände wieder in seine Haare, was ihm ein leises Stöhnen entlockte, das mich schier verrückt machte. Die Leidenschaft des Kusses raubte mir den Atem. Aber ich wollte mehr.

Grob stieß Sam mich gegen die Tür, woraufhin ich erschrocken keuchte. Sein Körper presste sich gegen meinen. Mehr, mehr, mehr verlangte mein Körper. Sam schien es ähnlich zu gehen, denn auf einmal spürte ich seine Hände an meinen Beinen und er hob mich hoch. Sofort schlang ich meine Beine um seinen Körper. Mühelos trug er mich in sein Schlafzimmer, wo er mich behutsam auf seinem Bett ablegte.

Keine Sekunde später war er schon bereits wieder über mir und hatte seinen Mund wieder auf meinen gelegt. Gott, das war so gut. Warum nochmal war ich bisher gegen das hier gewesen? Gierig suchten meine Finger nach dem Saum seines T-Shirts und streiften es ihm über den Kopf. Verdammt. Ich hatte es schon gemerkt, als ich seine Armmuskeln gespürt hatte, aber dieser Anblick bestätigte es nochmal; das hier war nicht mehr der noch etwas schlaksige Körper eines Teenagers, sondern der eines Erwachsenen. Nicht, dass ich mich damals beschwert hätte.

Eine meiner Hände fuhr bewundernd über seine Bauchmuskeln, während die andere leicht über seinen Rücken kratzte. „Fuck Gilles", presste er hervor, „du machst mich verrückt. Ich..." „Sam? Gilles? Seid ihr da?"

Erschrocken verharrten wir in der Bewegung. Einen Moment lang starrten wir uns hilflos an, bis Sam sich schnell sein T-Shirt wieder überstreifte und vom Bett sprang. Gerade wollte ich Shea sehr gerne umbringen. „Ich...äh. Wir reden später darüber!" Er zog eine verlegene Grimasse, ehe er das Zimmer verließ. Auch das kam erschreckend nahe an ein Déjà-vu-Erlebnis heran.

Ich atmete einmal tief durch. Und dann noch einmal. Mein Herz beruhigte sich trotzdem nicht. Ich dachte, mittlerweile müsste ich Meister darin sein, solche Dinge zu verdrängen, aber dem war scheinbar nicht so. Trotzdem zwang ich mich, aufzustehen und Sam zu folgen.

Auf dem Flur fand ich Shea, die mit aller Mühe Paul und Brice stützte. Sam eilte ihr zur Hilfe und schlang sich Pauls Arm über. „Was ist mit den beiden denn passiert?" Skeptisch blickte ich von einem zum anderen. Sie hatten die Augen halb geschlossen und wirkten kaum anwesend. „Das ist eine gute Frage, ich habe sie den ganzen Tag nicht gesehen. Scheinen sich ordentlich abgeschossen zu haben." Ich glaubte, das erste Mal einen Anflug von Gereiztheit bei Shea festzustellen. „Helft mir, die beiden in mein Bett zu tragen, die müssen erstmal ihren Rausch ausschlafen."

Zu dritt ging es einigermaßen schnell, die wenig kooperativen Paul und Brice ins Bett zu verfrachten. Danach ließ Shea sich sofort erschöpft aufs Sofa fallen. „Wie bitte hast du die beiden allein herbekommen?", fragte Sam sie. „Frag nicht. Gilles, kannst du heute Nacht bei Sam schlafen? Dann nehme ich das Sofa." Mein Blick huschte zu Sam, der mich ebenfalls sofort ansah. „Nein", kam es zeitgleich von uns beiden. Das war vermutlich das erste Mal, dass Shea erlebte, dass wir einer Meinung waren.

„Oh mein Gott, ich habe jetzt wirklich keine Lust, auf eure kindischen Anfeindungen. Es ist nur eine Nacht, reißt euch zusammen." „Du kannst doch mit bei mir schlafen?" Sam klang flehentlich, aber Shea schüttelte den Kopf. „Sam, du weißt, warum ich das nicht tun werde." Ihr Ton schloss darauf, dass da eine längere Geschichte hinter steckte, für die mich sicherlich auch interessiert hätte, wenn ich nicht komplett in Panik geraten würde, darüber dass ich eine ganze Nacht neben Sam verbringen musste. Das konnte doch nicht gut gehen.

Fill me with poisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt