Kapitel 18

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Sams Sicht

Atmen. Laufen. Atmen. Weiterlaufen. Atmen.
Immer wieder musste ich mich in Gedanken dazu auffordern. Alle anderen Gedanken verdrängte ich bewusst.
Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, bis ich endlich den erreichte. Hastig verließ ich das , doch auch die frische Luft nahm mir nicht das Gefühl, zu wenig Luft zum Atmen zu haben.

Schnellen Schrittes lief ich vom Grundstück. Ich musste dringend so weit weg von hier, wie möglich. Weg von der Erinnerung an das, was gerade geschehen war. Wie ein Irrer rannte ich über die leere Straße. Immer weiter, bis meine Beine mich nicht mehr tragen konnten. Ich sackte völlig erschöpft gegen einen Baum am Straßenrand und rang nach Atem. Es gelang viel zu wenig Luft in meine Lungen und ich japste noch eine Weile weiter, bis ich endlich wieder normal sehen konnte, ohne die lästigen Sterne vor meinen Augen.

Mit tiefen Atemzügen versuchte ich, den Schwall an Gedanken zurückzudrängen, der sich jetzt, nachdem ich nicht mehr rannte, wieder auf mich herabzustürzen drohte. Aber ich war noch nicht bereit dafür. Ehrlich gesagt fragte ich mich, ob ich jemals dafür bereit sein würde.

Keine Ahnung wie viel Zeit vergangen war, als ich mich endlich wieder dazu aufraffen konnte, aufzustehen. Irgendwie schafften meine Beine es geschafft hatte, mich auch noch nach Hause zu tragen. Nach Hause, wie falsch das klang. Denn das hier war garantiert nicht mein Zuhause. Ich hatte schon fast gar keine Erinnerungen mehr an das, was ich einmal wahrhaftig als mein Zuhause bezeichnet hatte und diese wenigen Erinnerungen waren zu schmerzhaft, um sie wieder abzuspielen. Trotzdem lagerte ich sie ganz hinten in meinem Kopf, weil ich mich auch nicht traute, sie komplett loszulassen. Dort hinten gab es jetzt wohl noch eine weitere Erinnerung.

,,Dan, ab jetzt fütterst du", herrschte ich ihn an, als ich ihn vor dem Eingang des Gebäudes rumlungern sah. ,,Haha, ganz sicher nicht. Ich habe meine eigenen Aufgaben zu erledigen, das hatten wir doch schon längst", nuschelte er zwischen seinem Zigarettenstummel. ,,Dan, ich meine es ernst." Mit gerunzelter Stirn nahm er die Zigarette und drehte sie in seinen dicken Fingern. ,,Ja und ich meine es auch ernst. Was soll das? Habt ihr euch die Köpfe eingeschlagen?" Ich starrte ihn ohne jegliche Emotion an. ,,So etwas in der Art." Meine Stimme klang tatsächlich viel gefasster, als ich es für möglich gehalten hätte. Seelenruhig nahm Dan einen weiteren Zug seiner Zigarette, bevor er sie dann ausdrückte und von sich wegwarf.

Dann seufzte er schwer, so als würde ihm dieses Gespräch körperliche Schmerzen bereiten. ,,Du raffst es einfach nicht, oder? Dieser Typ ist unser Gefangener. Er hasst uns, verständlicherweise. Wieso erwartest du die ganze Zeit, dass er freundlich zu dir ist? Geh einfach nur zu ihm hin, stell ihm das verfluchte Futter hin und geh wieder, das ist nun wirklich nicht so schwer!" Er war es doch gewesen, der zu mir meinte, ich sollte mich mit ihm anfreunden. Was wollte er eigentlich von mir? Genau das sagte ich ihm dann auch. ,,Ja, das habe ich gesagt. Aber offensichtlich überfordert es dich wohl, normale Konversationen mit Menschen zu führen, ohne direkt von Gewalt Gebrauch zu machen. Also lass es halt wieder bleiben - falls du es denn überhaupt versucht hast." Ich protestierte weiter, aber Dan hörte mir gar nicht mehr richtig zu und ließ mich irgendwann einfach stehen.

Na toll. Zu ihm zu gehen, war das allerletzte, was ich jetzt wollte. Als ich mich dann wohl oder übel doch auf den Weg machte, versuchte ich mich strikt an Dans Anweisungen zu halten, einfach zu ihm gehen, futtern hinstellen und wieder gehen. Gekonnt ignorierte ich das Zittern meiner Hand, als ich sie gegen den Sensor hielt und beobachtete, wie sich die Tür öffnete. Sonst kam es mir immer ziemlich lang vor, bis sie geöffnet war, doch jetzt wünschte ich mir, es würde noch länger dauern. Das tat es selbstverständlich nicht.

Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie er sich abrupt aufrichtet, aber ich sah nicht zu ihm herüber. Zielstrebig steuerte ich auf den Tisch zu, knallte das Essen darauf und drehte mich wieder um. Bis jetzt hatte Dans Plan ganz gut funktioniert. Bis jetzt.
„Du wirst jetzt nicht durch diese Tür gehen", durchbrach er das Schweigen. Ich zuckte leicht zusammen. Ich hätte wissen müssen, dass er nicht die Klappe halten würde, so war er einfach nicht. Und trotzdem war ich nicht darauf vorbereitet.

„Ey, ich rede mit dir, es ist verdammt unhöflich jemanden dabei nicht in die Augen zu sehen!", in seiner Stimme lag dieses Mal kein Funke Sarkasmus und allein das veranlasste, dass ich mich noch ein wenig unbehaglicher fühlte. Er benutze doch sonst immer Sarkasmus, wieso musste er jetzt so ernst klingen? Und wieso wollte er darüber reden, wohingegen ich mit aller Macht versuchte, nicht wahrzuhaben, was ich da angerichtet hatte. Er sollte es verdrängen, so wie ich das tat und keinen Gedanken mehr daran verschwenden.

Aber er tat nun mal nie das, was er sollte und deshalb redete er weiter: „Gut. Schön. Dann verdräng es halt. Aber es ist passiert und daran kannst du nichts mehr ändern, also könntest du mir auch genauso gut erklären, was zum Teufel das sollte?!" Ich spürte mein Handy in meiner Hosentasche vibrieren und erwachte aus meiner Starre. Dad hatte mir eigentlich befohlen, es nie hier mit reinzunehmen - es könnte schließlich sein, dass er mich bewusstlos schlug und dann über das Handy irgendwen kontaktierte.
Eilig presste ich meine Hand gegen den Sensor, tat weiter so, als würde ich sein Gerede nicht hören und verschwand aus dem Raum.

Draußen lehnte ich mich gegen die schwere Tür. Mit tiefen Atemzügen drängte ich die Gedanken zurück, die so hartnäckig auf mich einstürzen wollten. Mir war nicht klar, wie lange ich diese mentale Mauer aufrechterhalten konnte. Aber eins war mir klar. Nämlich dass ich unglaublich in der Scheiße steckte.

Fill me with poisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt