Finnian

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Als ich als Kind, zum ersten Mal die Karneolburg erblickte, stockte mir der Atem.

Und auch heute noch sobald ich vor ihr stehe, ergeht es mir nicht anderes.

Jedermann scheint von den lichtdurchfluteten Gängen und Zwiebeltürmen nur zu träumen.

Man munkelte sogar, dass verborgene Geheimgänge im riesigen Palast geben soll.


Die Entdeckungsreisen des großen Mandulin

Aus der kaiserlichen Bibliothek des Östlichen Reiches


Er betrachtete das Plakat an der Wand. Davon gab es inzwischen viele in MiKen und im ganzen Östlichen Reich. Dieses hier war ein besonders großes. Viele Menschen standen auf dem Platz und schauten auf das Bild.

Es zeigte den Attentäter, der den Kaiser Kirin Karneol umgebracht haben sollte. Bisher hatte es als unmöglich gegolten, sich überhaupt in den Palast zu schleichen. Doch jemand hatte es geschafft. Es hieß, vor der Tür der Schlafkammer hätten zehn Wachen gestanden und niemand habe etwas bemerkt. Kein Geräusch war aus dem Zimmer gekommen. Es war ein Rätsel wie es dem Attentäter gelungen war. Aber eines war klar, der mächtigste Mann der Welt, war im bestgeschützten Ort ermordet worden. Schatten, so nannte man seinen Mörder. Sein Motiv kannte man ebenso wenig, wie seine Herkunft.

Ein Künstler hatte das Bild in schwarz-weiß gezeichnet, um es noch eine Stufe bedrohlicher aussehen zu lassen. Finnian fand, dass es ihm gelungen war.

Finnian stand unter dem Schutz eines großen weißen Hauses. Alles in MiKen war weiß, als wäre eine andere Farbe eine Beleidigung für den Osten. Das Einzige, was in dieser Stadt anders war, waren die Dächer. Sie bestanden aus purem Gold. Ein Zeichen für den Reichtum und den Wohlstand des Ostens. Aber Finnian wusste es besser.

Im Moment war er ein Bettler. Er hatte sich die braune Kapuze tief ins Gesicht gezogen und war dreckig von oben bis unten. Seine braune Kleidung war zerrissen. Die langen weißen Gewänder waren nur den Reichen vorbehalten. Kaufen konnte Finnian sich nichts, da er kein Geld besaß. Also musste er stehlen.

Er starrte auf das Plakat an der Wand.

GESUCHT! Stand in großer Schrift darunter. TOD ODER LEBENDIG.

Ein Stück daneben stand die Summe, die man auf den Kopf des Attentäters ausgesetzt hatte. Finnian schluckte. Die Zahl war so lang, dass er sie nicht lesen konnte. Eine jede Menge Geld, für jemanden wie ihn.

Er wandte sich vom Plakat ab und ging davon. Die Straßen in MiKen waren breit und unglaublich sauber. Die Menschen, die an ihm vorbeizogen, beachteten ihn nicht. Er war unsichtbar. Das war er immer schon gewesen. Keiner nahm ihn war. Er war nur ein unscheinbarer Bettler. Ein Bettler im Dreck, der prachtvollsten und reichsten Stadt der Welt. Er war ein Niemand.

MiKen war groß. Sie war eine der größten Orte, die es überhaupt gab. Am beeindruckendsten waren die goldenen Dächer, die im Licht erstrahlten und die Karneolburg, die auf einem Hügel in der Mitte der Hauptstadt lag. Dort hatte der Kaiser mit seiner Familie gelebt, bevor er ermordet wurde.

Finnian ging gebückt an einigen hohen Linden vorbei. Er macht sich so klein wie möglich und zog seinen Kopf ein. Er war ungern auf so breiten Straßen, wie diesen unterwegs. Er fühlte sich fehl am Platz. Die Blätter der Bäume leuchtenden in einem satten Grün oder vereinzelt in Gelb. Die Linden waren zum Symbol des Ostens geworden, wegen ihrer angeblichen Stärke und Weisheit.

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