Die Bergherren im hohen Norden waren zähe Leute.
Ich speiste mit ihnen in eisigen Steinhallen und sie trugen dicke Pelze, Äxte und Schwerter
aus Stahl und Knochen bei sich.
Riesige Wölfe hielten sie als Haustiere und sie sangen dunkle Lieder
mit ihren rauen Stimmen und dem harten Akzent des Nordens.
Die Entdeckungsreisen des großen Mandulin
Aus der kaiserlichen Bibliothek des Östlichen Reiches
Am nächsten Morgen, war es ebenso kalt wie am Abend. Aus Junas Atmen bildeten sich kleine weiße Wölkchen. Sie, Adara und Finnian standen vor dem Stall und starrten in den Schnee.
Jemand hatte dort ein Symbol gezeichnet. Es erinnerte an ein Auge.
„Wisst ihr, was das sein soll?“, fragte Juna.
Sie hatte es irgendwo schon einmal gesehen. Sie wusste nur nicht mehr wo.
„Keine Ahnung“, antwortete Adara.
Es sah noch ganz frisch aus. Jemand musste noch vor kurzem hier gewesen sein. Aber wer sollte schon so ein Symbol vor einem abgelegenen Schafstall zeichnen?
„Das waren die Morganen“, stellte Juna fest, „Wir sind auf der richtigen Spur.“
Ist das vielleicht der nächste Hinweis?, fragte sie sich. Bedeutet das, dass Thanatos Mutter wirklich eine Formori war?
„Und wohin soll uns diese Spur führen?“, wollte Adara wissen, „Das sind nur ein paar Striche mit einem Punkt in der Mitte.“
Juna nickte langsam. Mehr verstand sie auch nicht. Natürlich konnte es auch sein, dass jemand nur aus Spaß dieses merkwürdige Symbol dorthin gezeichnet hatte.
„Folgt mir“, sagte Finnian plötzlich.
Juna und Adara drehten sich überrascht zu ihm um. Für Juna war es immer noch merkwürdig, ihn ohne Kapuze zu sehen.
Finnians mandelförmigen Augen waren starr auf das Zeichen gerichtet.
„Ich weiß, was es bedeutet“, sagte er, „Wir sind hier in Utrao fertig und müssen weiter. Ihr habt alles herausgefunden, was nötig ist. Nun müssen wir an einen neuen Ort.“
Adara blinzelte: „Und das weißt du woher?“
Finnian ignorierte sie und ging schon einfach los.
„Wohin gehen wir jetzt überhaupt? Hey, warte! Warum antwortest du nie, wenn man dich was fragt?“
Auch Juna runzelte die Stirn. Was hieß das jetzt? Sie mussten schon wieder los? Sie waren doch erst seit vorgestern hier.
Sie und Adara sahen sich an, dann folgten sie Finnian.
Er hatte für sie etwas gestohlen, das wie ein gigantischer Schlitten aussah. Wie er das angestellt hatte, wusste Juna nicht. Sie war auch nicht sehr begeistert davon. Sie hatte damals schon in Samoria wegen der geraubten Gondel ein schlechtes Gewissen gehabt. Finnian schien keines zu haben.
Er bestieg den Schlitten und überprüfte ihn auf seine Stabilität. Finnian hatte sich einen neuen schwarzen Schal um den Hals gewickelt. Woher er ihn hatte, konnte Juna sich denken. Gestohlen, wie die Rodel. Gestohlen, wie das Schwert damals. Er hatte wohl niemals Schuldgefühle.
Finnian nickte ihnen zu. Juna und Adara stiegen ebenfalls auf den Schlitten. Er bestand aus braunem Holz und hatte gebogene Kufen. Es gab eine kleine Bank, auf die die beiden sich setzten. Vorne an eine Leine war ein Skûlingor gespannt, der bereit war loszulaufen.
Finnian stieg ebenfalls in den Schlitten und verpasste dem Steinbock einen Stoß. Der Steinbock rannte los und der Schlitten setzte sich in Bewegung und rutschte den Hang hinunter. Juna fühlte sich nicht wohl dabei. Der Aufbruch kam ihr viel zu schnell und unerwartet. Außerdem hatte sie keine Ahnung, wo Finnian sie hinbrachte. Er war ein Raelyn und arbeitete für die Morganen. Lillion hatte geraten ihm nicht zu trauen.
Er sei gefährlich.
Der Schlitten beschleunigte sich und Skûlingor lief schneller.
„Wenn wir weiter dieser Route folgen, sollten wir bald da sein“, erklärte er und setzte sich mit weitem Abstand neben sie auf die Bank.
„Was ist, wenn wir mit dem Ding irgendwo dagegen krachen?“, fragte Adara, „Zum Beispiel gegen einen Baum. Es wird schwer sein bei dieser Geschwindigkeit zu lenken.“
„Ich passe auf.“
„Ach, willst du dann deine Schatten benutzen?“
Finnians Gesicht verhärtete sich: „Wenn es sein muss, ja.“
„Wie genau machst du das?“, fragte Juna neugierig, „Ist es schwer Schatten zu beschwören?“
Ihm gefiel die Frage gar nicht, doch trotzdem antwortete er.
„Nein, sie tun immer das, was ich will. Ich muss ihnen nur das befehlen, was ich mir vorstelle.“
Er hob seine Hand und ließ darüber eine tiefschwarze Kugel schweben. Mit einer schnellen Bewegung verwandelte sie sich in einen Vogel aus Schatten. Finnian ließ ihn davonfliegen.
„Das ist unglaublich“, staunte Juna, „Wieso hast du uns nichts davon erzählt?“
Schon bereute Juna die Frage. Finnian sah sie wütend an.
Wenn Blicke töten könnten, dachte sie.
„Ihr wisst überhaupt nichts über mich“, flüsterte er, „Und das wird auch so bleiben.“
Er rutsche ans andere Ende der Bank und vergrub sein Gesicht bis zur Nase in seinem neuen Schal. Für die nächsten Stunden blieb er schweigend so sitzen, während der Schlitten immer weiterfuhr und der Skûlingor rannte. Zerrupfte Tannen standen hier und da, ebenso wie verlassene Siedlungen. Wolken umhingen wie ein schweres Tuch die Berge und es fing an zu schneien.
Juna zitterte. Der Wind wehte unerbittlich. Sie spürte ihre Finger und Zehen nicht mehr und ihre Nase war so kalt wie ein Eisblock. Sie wünschte, sie hätte den Feuerzauber noch nicht aufgebraucht. Sie wünschte sich, Finnian würde ihnen sagen, wohin es geht. Sie wollte nur noch ins Warme. Juna schloss die Augen, während der Schlitten immer weiterfuhr. Schnee fiel ihr ins Gesicht. Und da war es ihr, als höre sie plötzlich ein Lied. Ein Lied, so zart wie fallende Schneeflocken und so kristallklar wie das Wasser eisiger Flüsse. Frostig und magisch zugleich. Wie der Norden. Wie Asurien.
„Die Morganen haben uns also nur nach Utrao geschickt, damit wir heuausfinden, dass Thanatos Mutter eine Formori war“, sagte Adara zitternd, „Für nur das, ziemlich viel Aufwand.“
Juna öffnete benommen die Augen und die frostige Melodie verschwand.
„Das hätten sie uns ruhig sagen können“, Adara hauchte ihre Finger an, „Wenn das die Wahrheit sein soll, dann hätten wir uns den Weg sparen können. Wir sitzen jetzt nämlich auf einem Schlitten, der unaufhaltsam bergab fährt, und zwar an einen unbekannten Ort. Großartig.“
„Salim war so wie du“, sagte Juna nachdenklich, „Auch er stammte von zwei Völkern ab.“
„Ja“, sagte Adara zögerlich, „Nur stamme ich von den Ajin ab und nicht von den Formoris, und darüber bin ich froh. Formoris essen nämlich nichts und ich liebe es zu essen.“
Juna lächelte: „Außerdem sehen sie noch seltener die Sonne als die Ajin in ihren Höhlen.“
Sie zog die Kette mit dem blau leuchtenden Nyrei-Kristall hervor. Adara hatte ihn ihr am Tag des Lichtbringerfests geschenkt. Er war wunderschön.
„Das stimmt“ pflichtete Adara ihr bei und hauchte noch einmal in ihre Hände, „Und ein bisschen mehr Sonne würde auch Asurien guttun.
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Das Schwert des Thanatos
FantasyWird überarbeitet Juna Montera, ein Mädchen, das nichts kennt außer dem Alleinsein und der ewigen Einsamkeit. Nichts außer unerfüllter Hoffnungen und verlorengegangener Träume. Ihr strenger Onkel verbietet ihr nämlich unter jeglichen Umständen das...