Teil 1 ○● Nebel ○● Die Tür

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Einst wurde mir, dem großen Entdecker Mandulin die Ehre zu Teil,

die Unsterblichen Wälder zu betreten.

Eine große Ehre für mich,

für einen Menschen, denn diese Wälder waren anders.

Anders, uralt und unglaublich mächtig.


Die Entdeckungsreisen des großen Mandulin

Aus der kaiserlichen Bibliothek des Östlichen Reiches



Schon seit Tagen regnete es ununterbrochen. 

Dicke Regentropfen klatschten gegen die Mondscheiben und der Wind draußen heulte laut, lauter als ein Rudel hungriger Wölfe. Es war dunkel und kalt im alten Gebäude mit den Schindeldächern und groben Steinwänden.

Juna Monteras Kopf lehnte gegen eine Wand und das Mädchen sah hinaus in den strömenden Regen. Vor dem Fenster zog dicker Nebel auf und verschluckte alles um sich herum. Den Nadelwald, den Brunnen vor dem Haus und die kleine Scheune. Es wurde immer kälter und bald schon fing Juna an zu zittern.

Schließlich stand sie wankend auf und zündete sich mit einem Streichholz eine Kerze an. Schwaches Dämmerlicht breitete sich im Raum aus.

Vor fünf Tagen waren Juna und ihr Onkel in dieses uralte Haus gezogen, in dieses uralte Haus mit all seinen Spinnweben und knarrenden Bodendielen. Juna leuchtete den Raum ab. Sie war hier ganz allein und fühlte sich schrecklich einsam. Ihr Onkel saß in seinem Arbeitszimmer und wollte seine Ruhe haben. Er wollte immer seine Ruhe haben und hatte nie Zeit für Juna.

Juna öffnete die quietschende schwere Holztür, die in die Eingangshalle führte. Sie sah sich um. Der Boden der Eingangshalle sah aus wie ein schwarz-weiß kariertes Schachbrett, wie ein sehr schmutziges Schachbrett.

Auf der gegenüberliegenden Seite war die Tür zum Arbeitszimmer ihres Onkels. Ein schwacher Lichtschein schien unter dem Türspalt hindurch und Juna hörte ihn einmal kräftig husten.

Sie schlich weiter und kam zu einer steilen Holztreppe. Am Geländer hingen Spinnweben und ihre Stufen verschwanden in einer undurchdringbaren Dunkelheit. In einer undurchdringbaren Dunkelheit, die uralte Geschichten und längst vergessene Geheimnisse verbirgt, so dachte Juna jedenfalls, als sie ihren Fuß auf die ersten morschen Stufen setzte und diese bedrohlich knarrten. Ihr Griff um den Kerzenleuchter verstärkte sich, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

Bis jetzt hatte Juna sich noch überhaupt nicht im neuen Haus umgesehen. Sie hatte nicht einmal umziehen wollen, auch wenn ihr altes Haus nicht gerade das Beste gewesen war.

Juna stieg weiter die morschen Treppen hinauf. Trotz des Kerzenscheines schien die Dunkelheit um sie herum immer dichter zu werden und sie zu verschlucken. Doch Juna hatte keine Angst, nicht vor dieser Art von Dunkelheit. Sie wollte ihr ihre Geheimnisse entlocken, ihre Geschichten hören. Sie wollte etwas erleben. Fünfzehn Jahre lang hatte sie nämlich nur in einer kleinen Wohnung gelebt, die sie, weil es ihr Onkel verbot, niemals, niemals verlassen durfte. Er hatte immer gesagt, dass die Welt draußen viel zu gefährlich sei, dass sie nur eingeschlossen im Haus sicher sei. Sie liebte ihn, auch wenn er das von ihr verlangte, auch, wenn er nie Zeit für sie hatte.

Das Schwert des Thanatos Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt