Thorasal

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„Am Anfang aller Zeit war die Welt kalt und leblos. Dunkelheit lag über den Landen Andorias, welche noch eine trostlose Wüste aus Stein waren. Kein Alb lebte damals, kein Tier und keine Pflanze existierte.
Aus dem Licht der fernen Sterne wurde die Göttin Narya geboren und sie war lange die einzige Wärme die Andoria kannte. Allein wandelte sie umher, während Zeitalter verstrichen. Aus der Dunkelheit gebar sie drei Töchter. Doch waren sie nicht von gleißender Helligkeit wie ihre Mutter, die wie eine Flamme erschien. Blass waren sie und kühler, da sie der Nacht entstammten.
Das kahle Andoria machte die vier Frauen traurig und so begannen sie auf ihren Wanderungen, Wesen zu formen. Bäume, Gräser, Blumen und Sträucher aller Art machten sie und pflanzten sie auf Andorias Erde. Sie schufen Betten für das Wasser und so wurden Flüsse und Seen, welche sie mit Fischen bevölkerten. Allerhand Tiere schufen sie, die großen Hirsche und Wölfe, aber auch Eichhörnchen und Wühlmäuse, die Bergziegen der hohen Berge und die Löwen der südlichen Savanne. Ebenso die riesigen Adler und Eulen, welche die Luft durchziehen.
Schließlich formten sie die Alben, Abbilder ihrer selbst, doch viel kleiner, denn sie sollten die Tiere Andorias nicht beherrschen.
Als all dies vollbracht war, stieg Narya an den Himmel, um ihr gleißendes, warmes Licht über allen Landen leuchten zu lassen. Noch heute leuchtet sie als unsere Sonne.
Ihre Töchter jedoch nahmen Abschied von der Mutter und stiegen am anderen Ende der Welt als Monde gen Himmel, da sie die Dunkelheit und Kühle liebten.
Doch Narya sah auf Andoria hinab und erblickte ein totes Land, wenn auch voller Geschöpfe. Und so hauchte sie ihren Atem vom Himmel herab, welcher jedes Lebewesen mit dem Sonnenatem erfüllte. So wurde ihnen Leben geschenkt."

Dorans Stimme verklang und der Blick des alten Alben wanderte gen Osten, wo sich eben die Sonne über den Horizont erhob.
Thorasal saß seinem Lehrer im Schneidersitz gegenüber. Sein Vater hatte die Geschichte von der Sonnengöttin Narya und ihren Töchtern oft erzählt, doch Doran wollte, dass er die alte Sage seines Volkes in dem Wortlaut lernte, wie Fomor selbst sie seinen Schülern gelehrt hatte.
„Was weißt du über den Sonnenatem?", fragte Doran nun.
„Der Sonnenatem ist in jedem Wesen. Man kann ihn kontrollieren und entziehen", antwortete Thorasal, sich deutlich an den Atemraub erinnernd, den er beobachtet hatte.
Doch Doran schüttelte sanft den Kopf.
„Der Sonnenatem ist kein Gegenstand, der wie ein Fremdkörper in einem steckt und darauf wartet, sich unserem Willen zu unterwerfen.", korrigierte er, „Er ist ein Teil jedes Lebewesens, von Geburt an mit ihm verbunden. Der Sonnenatem ist das Leben selbst."
Kurz verfiel er in Schweigen, dann nahm er den Faden wieder auf.
„Manche wenige Alben besitzen von Geburt an bereits die Fähigkeit, den Sonnenatem instinktiv zu fühlen. Deine Schwester muss eine dieser Alben gewesen sein, nach dem, was du mir erzählt hast."
Thorasal nickte. „Sie hat nie erklären können, wie sie es macht. Und ich habe es nie so recht geschafft, mehr als eine undeutliche Ahnung zu haben."
Doran lächelte wissend. „Ja wir weniger glücklichen, die nicht intuitiv den Sonnenatem spüren, müssen dies in harter Arbeit erlernen. Es nimmt viel Zeit, Ausdauer und Kraft in Anspruch, bis der Sonnensinn soweit trainiert ist, dass er willentlich und gesteuert einsetzbar ist. In früheren Zeiten widmeten sich Alben ihre ganze Jugend lang dem Studium des Sonnensinns."
Entgeistert starrte Thorasal den Alten an. „Ihre ganze Jugend?", echote er. Wie lange sollte es dauern, bis er diese Fähigkeit beherrschte? Jahrzehnte?
Doran lachte leise. „Keine Sorge, Thorasal. Ein derart langes Studium ist nicht nötig, denn viel von dem alten Wissen ist verloren gegangen. Was geblieben ist, ist lediglich die Technik, den Sonnensinn zu stärken und zu nutzen. Wir müssen deinen Sonnensinn stärken, ähnlich wie man einen Muskel trainiert, den du bisher noch nie genutzt hast."
„Und wie geschieht das? Wie lange dauert das?", bohrte Thorasal nach.
Doran wog nachdenklich den Kopf hin und her. „Das ist ganz unterschiedlich, wie lange ein Alb dafür braucht. Ich war kein übermäßig schneller Schüler. Acht Jahre habe ich gebraucht, bis ich die Übungen beherrschte, die meine Großmutter mir zeigte. Sie dagegen hat nur wenige Wochen benötigt, um ihren Sonnensinn zu nutzen."
Thorasal schluckte. Es lag also an ihm, wie lange es dauern würde. Acht Jahre... Das war zu viel. Auch wenn er fürchtete, dass es noch länger dauern könnte. Er schwor sich, noch in diesem Sommer seinen Sonnensinn kontrollieren zu können.
„Fangen wir an", sagte er mit fester Stimme zu Doran.
Dieser schmunzelte ob der ungestümen Entschlossenheit seines jungen Schülers.
„Ich habe dir versprochen, dass ich dich die Techniken lehre, die auch deine Schwester beherrschte. Wenn du dich weiteren Wissens würdig erweist, werde ich dir auch den Atemraub zeigen", begann er.
„Der erste Schritt ist die Fähigkeit, den eigenen Sonnenatem zu erspüren. An diesem wirst du auch die Kontrolle des Sonnenatems üben, da es die für deinen Umwelt sicherste Methode ist, wie du lernen kannst."
Thorasal nickte, seine Augen leuchteten begeistert und voller Wissensdurst.
„Dein Sonnenatem ist Teil von dir. Er ist wie dein Herzschlag, dein Atem, wie das Arbeiten deiner Muskeln und Sehnen. Die einfachste Methode, seinen Sonnenatem zu finden, ist die Meditation", erklärte Doran, „sobald du in der Lage bist, ihn bewusst zu fühlen, wird es dir auch ohne einen meditativen Zustand immer schneller und leichter gelingen. Doch bis dahin ist es schon ein weiter Weg. Der schwierigste Teil der Ausbildung ist der allererste Schritt, die Verbindung zum eigenen Sonnenatem zu finden."
Einen Moment lang musterte er Thorasal, dann sagte er:
„Schließe deine Augen, bleib im Schneidersitz, aber richte dich auf. Stelle dir vor, dein Kopf ist an einer Schnur aufgehängt und wird in die Höhe gezogen und diese Schnur zieht sich deine gesamte Wirbelsäule entlang bis in den Boden hinab. Lege deine Hände auf deine Knie."
Die Stimme Dorans wurde warm und leise, während Thorasal tat, wie ihm geheißen wurde. Vorsichtig rückte er sich etwas zurecht und lauschte auf weitere Anweisungen Dorans, das Herz aufgeregt pochend. Bald schon würde er seinen Sonnenatem spüren! Vielleicht sogar schon heute!
„Entspanne deine Schultern, deine Arme, lasse sie auf deinen Knien ruhen. Erlaube deinen Beinen, ihr Gewicht an die Erde unter ihnen abzugeben. Lasse deinen ganzen Körper vom Boden tragen. Er wird dich halten...
Atme tief und ruhig ein und aus. Entspanne dein Gesicht, die Stirn, die Augen, den Mund...
Erlaube dir, ganz ruhig zu werden. Lenke deine Sinne auf dich, konzentriere dich auf deinen Atem.
Atme ein... Atme aus... Ein... und aus..."
Tief und langsam sog Thorasal die Luft ein. Ein... und aus... ein... und wieder aus... Würde er den Sonnenatem bald erspüren können? Wie lange würde er wohl brauchen? Seine Gedanken drifteten ab und nur mit Mühe lenkte er sie wieder zurück auf seinen Atem. Ein und aus... Ein und aus...
„Wir nehmen oft nur die Welt wahr, die uns umgibt", erklang Dorans Stimme da erneut.
„Doch eine eigene kleine Welt liegt in uns, alles, was uns ausmacht, ist in uns. Lausche auf deinen Atem, wie er durch deine Nase einströmt und in deine Lunge rauscht. Spüre, wie deine Brust sich hebt und senkt. Fühle dein Herz schlagen, kraftvoll und unermüdlich. Dein Blut rauscht durch deinen Körper, gewaltigen Flüssen gleich. Kraftvoll halten dich deine Muskeln..."
Mit geschlossenen Augen mühte Thorasal sich, die äußere Welt zu verdrängen. Über ihm zwitscherte ein Vogel, ein Gras kitzelte seine Wange. Ein und aus atmete er... ein und aus... Seinen Herzschlag fühlte er deutlich. Unbeirrbar schlug sein Herz in seiner Brust.
„Die Kraft des Lebens erfüllt dich...", flüsterte Doran, „Der Sonnenatem ist in dir. Lausche in dich hinein, dann wirst du ihn spüren."
Er verstand nicht. Da war doch nichts! Sein Atem, sein Puls... Doch sonst?
„Wie?", platzte es verunsichert aus ihm heraus, „Wie fühlt er sich an?"
Ein glucksendes Lachen erklang.
„Du wirst deinen Sonnenatem erkennen, sobald du ihn fühlst."
Ein resigniertes Seufzen entwich Thorasal, dann richtete er sich auf, rollte kurz zur Entspannung mit den Schultern und fokussierte sich auf seinen Atem.
Ein und aus...
Ein und aus...
Ein...
Aus...

Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende WaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt