Kapitel 61. Spätsommerwiese

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Die Wiese war wie ein lebendiges Gemälde. Wo man nur hinblickte, man sah Töne aller Farben - von Pastell zu leuchtenden Blüten. Ein wehendes Meer eines goldenen Teppichs erstreckte sich endlos über die weiten Lande. Ein Paradies, das nie jemand verlassen wollte. War man erst einmal angekommen, so befand man sich zu Haus.

Warm kitzelte die Sonne in ihrem Gesicht, streichelte zart ihre Wange und erfüllte sie mit Lebenslust. War sie angekommen? Das sanfte Gras, in dem sie ruhte, wiegte leicht vor ihren Augen hin und her. Hin und her. Wie hypnotisiert sah sie den Halmen zu, wie sie schwangen und auf dem Blau des Himmels tanzten. Gelb-braune Töne, als wäre das Gras von der Sonne geküsst.

Die Luft duftete herrlich nach reifen Früchten und allerlei Blumen. Tief atmete sie ein, inhalierte die frische Luft. Das tat gut. Ein Schmetterling kreuzte ihr Blickfeld, flatterte friedlich über sie hinweg, ehe er auf einer der Blumen landete und sie die Augen schloss. Das Summen einer Biene drang in ihre Ohren, wie sie fleißig den letzten Nektar sammelte, bevor der Herbst über diese Idylle einbrechen würde.

Ein und aus. Einfach atmen und genießen. Das Zirpen einer Grille vernahm sie leise - nicht weit von sich entfernt. Der Wind rauschte durch die Blätter der Bäume, ließ diese rascheln und klangvoll ertönen. Bald würde das erste bunde Laub zu Boden segeln.

Eine Spätsommerwiese - der Ort voller Ruhe, aber auch ein Ort des Abschieds. Der Sommer war vorbei, der Herbst nahte. Ein Übergang zwischen Licht und Schatten. Dennoch genoss sie den Moment des Friedens und ließ die vielen Empfindungen auf sich wirken.

Das trockene Gras knisterte unweit von ihr, sodass es selbst das Zwitschern der letzten Vögel übertönte. Schritte näherten sich. Gleichmäßig und ruhig. Ihre Sinne schlugen keinen Alarm, doch sie öffnete die Augen und setzte sich auf. Wieder raschelte das Gras, als er sich zu ihr gesellte.Er schwieg, sah in die Ferne und würdigte sie keines Blickes.

Was wollte er sagen? Was sollte er sagen? Tief in seinem Inneren wusste er es. Er könnte es aussprechen, könnte allem Klarheit verschaffen. Kein Wort drang über seine Lippen. Sie sollte es selbst realisieren.

Yunos Blick schweifte wieder über die Wiese. Diesen Ort kannte sie nicht. Er war ihr fremd und doch - er hatte etwas vertrautes an sich. Ob es an diesem Mann neben ihr lag oder an etwas anderem, konnte sie nicht sagen. Auch wenn sie sich innerlich schrecklich fühlte, tat die Idylle ihr unheimlich gut.

Wieder sah sie zu dem Fremden neben sich. Sie hatte ihn noch nie gesehen, doch sie wusste, dass er sie erwartet hatte. Sie spürte eine Verbundenheit - merkwürdigerweise eine brüderliche Verbundenheit. Sie konnte es nicht einordnen, doch das stille Schweigen heizte sie innerlich auf. Sie würde nicht warten. Sie hatte zu viel verloren, um zu warten. Auf eine Antwort, auf eine Erklärung.

,,Ich bin tot", sprach sie ihren einzigen Gedanken aus und suchte nach einer Regung in seinem Gesicht. Sie fand nichts, doch sie hörte ihre eigene Reue und Ungläubigkeit. Sie war tatsächlich gestorben und er sagte nichts. Still saß er neben ihr. Seine Robe schaukelte im seichten Wind.

,,Sag mir, was soll ich hier?" Was sollte sie allein auf dieser Wiese? Sie sah keine weitere Menschenseele und das Gras reichte weit in die Ferne, sodass sie kein Ende sehen konnte. Nur vereinzelt stand ein Baum in mitten des goldenen Meeres.

Ein Brummen ließ sie wieder zu ihm schauen. Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Als schien er zu überlegen, wie er seine Worte wählte. ,,Du bist hier, weil ich es will." Er stoppte, schlug die Augen auf. ,,Versteh das nicht falsch", wank er ab, lächelte wie Naruto, wenn er einen Fehler begangen hatte. ,,Ich möchte den Wächter persönlich kennenlernen, der die Bijuu zwei Jahrzehnte ertragen konnte."

Ein aufrichtiges, ehrliches Lächeln zierte seine Lippen und sie verstand, dass sie aus guten Willen hier war. ,,Du hast länger durchgehalten, als all die anderen. Du machst Ryuga Konkurrenz." Er war jemand, der wusste, was all die Jahre geschehen war. Er hatte die Wächter beobachtet, stellte sie stillschweigend fest.

,,Du bist würdig, genauso wie es Ryuga war. Die anderen Wächter... was soll ich zu ihnen sagen? Sie sind entweder durchgedreht oder haben die Macht missbraucht. Sie sind nie hier angekommen." Ein kleines Lachen entrann seiner Kehle. Er war ein Freigeist, erkannte sie nun.

,,Mein Name ist Ashura", gab er ihr die Bestätigung, die sie verstehen ließ. Diesen Namen hatte sie bereits in jungen Jahren gehört. Ryugas Lehrmeister. ,,Ich bin Yuno." Sie neigte ihr Haupt ehrwürdig, doch er lachte nur. Er war wirklich wie ihr kleiner Bruder.

Minuten verstrichen in Stille, in der sie nebeneinander saßen und über die Wiese blickten. ,,Ist das das Jenseits?", durchbrach sie das Schweigen und erhielt ein eindeutiges Kopfschütteln. ,,Wir sind nicht im Jenseits, aber auch nicht mehr im Diesseits. Wir sind an einem Dreh- und Angelpunkt zwischen den Welten. Ryuga war damals ebenfalls hier und hat seine Entscheidung gefällt. Nun steht dir die selbe Wahl bevor."

,,Welche Wahl?" Auch wenn die Frage in ihren eigenen Ohren dämlich klang, rutschte ihr diese ungebremst über die Lippen. Ashura störte sich nicht daran. ,,Du kannst zwischen zwei Optionen wählen: Entweder du gehst ins Jenseits. Dort warten deine Familie, Freunde, alle Verstorbenen." Abwartend legte er eine Pause ein, musterte sie.

Sie konnte zu den anderen? Zu ihrer Mutter? Zu Rin? Zu Jiraiya? Asuma, Itachi, Deidara, Sasori? Sie könnte in Frieden abtreten.

,,Deine zweite Option besteht darin, dass du Ryugas Platz einnimmst." Irritiert blickte sie auf. Seinen Platz einnehmen? ,,Dir würde die Aufgabe zufallen, alle weiteren Wächter zu begleiten und sie zu warnen, bis der nächste Würdige zu mir übertritt." Wieder pausierte er, ließ sie verstehen. ,,Ich soll sie vor Rune warnen?", hinterfragte sie, da er eigentlich ein netter, aber sturköpfiger Bijuu war. Dann aber erinnerte sie sich an Ryuga, wie er starb und letztendlich wie sie selbst vor Minuten gestorben war. Rune war gefährlich und unbändig - eine Waffe, die nicht leichtsinnig eingesetzt werden durfte.

,,Rune, so heißt er also." Wieder stahl sich ein Lächeln in seine Züge - ein glückliches und erfühltes Lächeln. ,,Du hast wirklich eine starke Verbindung zu den Bijuu. Eine Verbindung, die auf Vertrauen und Respekt aufbaut. Es wäre schön, wenn es weiteren Wächtern imponieren würde."

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Die Wächterin der Bijuu - Dark and Light (Band 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt