Kapitel 28

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~ Elyanor ~

Als ich wieder in meinem Büro angekommen war, legte ich die Hefte mit den Vorschlägen auf meinen Schreibtisch und setzte mich. 

Ich hatte noch nicht nachgesehen, wie weit Frederick mit seiner Arbeit gekommen war, sondern wollte zuerst lesen, was sich meine Kandidaten zu der Situation gedacht hatten. 

Zuerst nahm ich das lose Blatt in die Hand, das ganz oben auflag. Dashiells Vorschlag.


Elyanor,

du hast gesagt, wir sollen unsere Gedanken aufschreiben, die wir uns zu dem Szenario machen. Aber meine Gedanken sind bei dem Abend, an dem ich dir meine Gründe für meine Teilnahme an der Selection genannt habe. Du hast jedes Recht, auf mich wütend zu sein. Ich war nicht ehrlich zu dir und habe dir meine anfänglichen Motive verschwiegen. Aber sie waren genau das: anfänglich. In den letzten Wochen durfte ich dich besser kennenlernen und ich glaube ich habe langsam ein Gespür dafür bekommen, was dir der Job wirklich abverlangt. Es ist eben nicht nur das Leben im Luxus, das man von außen sieht, sondern es steckt viel mehr dahinter.

Du musst mir beweisen, dass du anders bist.

Das habe ich bei unserer ersten richtigen Verabredung zu dir gesagt. Und ich glaube mittlerweile hast du das getan. Eine Lösung für diesen Konflikt zu finden, ist nicht leicht. Ich empfehle einen Blick in die Arvandorianische Verfassung und die Internationale Konvention: §34a Absatz 1 AV und §3 Absatz 1 IK. Mit diesen beiden Paragraphen solltest du in der Lage sein, einen Ansatz zu finden, um den Konflikt zu lösen.


Wow. Das war so gar nicht das, was ich erwartet hatte. Obwohl er es nicht so geschrieben hatte, war es eine Entschuldigung. Mit den Augen überflog ich den Text erneut. Die Arvandorianische Verfassung und die Internationale Konvention? 

Ich kannte den Inhalt der genannten Paragraphen nicht, also schob ich meinen Stuhl zurück, stand auf und ging mit dem Zettel in der Hand hinüber zu meinem Wandhohen Bücherregal, in dem ich alle relevanten Bücher zu Politik stehen hatte. 

Auf Augenhöhe standen die Gesetzestexte, sortiert nach Zugehörigkeit. Langsam ließ ich meinen Blick über die Buchrücken schweifen. Ganz rechts stand die Verfassung. Ich ging hinüber und zog sie aus dem Regal, bevor ich mich in den gemütlichen Ohrensessel fallen ließ, der praktischerweise direkt daneben stand.

Erneut sah ich auf den Zettel. Paragraph 34a, Absatz 1. Ich legte ihn neben mich auf einen kleinen Beistelltisch und nahm die Verfassung zur Hand, die ich aufschlug und dann die Seiten umblätterte. §31, 32, 33, 35. Halt. Ich blätterte zurück. Paragraph dreiunddreißig. 

Verwirrt schlug ich die Seite erneut um. Paragraph fünfunddreißig. Ich sah genauer hin und erkannte eine feine Kante zwischen den Seiten, als hätte jemand eine Buchseite fein säuberlich herausgerissen. 

War das Dashiell gewesen? Aber er hatte keinen Zugang zu meinem Büro und sicher in der Ausgabe der Bibliothek gesucht. Aber wer sonst hatte ein Interesse daran, eine Seite aus der Verfassung in meinem Büro zu entfernen, die anscheinend die Lösung all meiner Probleme – zumindest laut Dashiell – darstellte?

Ich schlug das Buch zu und stellte es zurück ins Regal. Als ich mich wieder umdrehte, kam Frederick aus dem Nebenzimmer herein.

„Schon wieder zurück?", fragte er freundlich und schloss die Tür hinter sich.

Ich nickte. „Ja, vor ein paar Minuten erst."

„Ich hoffe, der Unterricht war ergiebig und die Herren haben dazugelernt", meinte er schmunzelnd.

Selection - ElyanorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt