Kapitel 47

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~ Lucian ~ 

Amelia führte mich erneut den Flur mit den zahlreichen Zellen entlang, in denen man so gut wie keine Privatsphäre hatte. Offenbar stand ein weiteres Verhör auf dem Plan. Dabei hatte ich ihr schon alles gesagt, was sie wissen wollte.

Mit ihrer Fähigkeit, sich gänzlich in Luft aufzulösen, konnte sie einem wirklich einen Schrecken einjagen. Und wenn man dann auch noch eine Stimme hörte, die scheinbar aus dem Nichts kam oder die einem so nah war, als würde jemand direkt hinter einem stehen und in sein Ohr sprechen...

Ich erschauderte und bemerkte resigniert, dass wir tatsächlich in den Flur zu den Verhörräumen einbogen. "Nur keine Angst, kleiner. Heute bin ich nicht diejenige, die die Fragen stellt."

Amelia, die mich am Arm gepackt hielt, hatte offenbar mein Erschaudern bemerkt. Ich reagierte nicht auf ihre Aussage, war aber dennoch neugierig. Wer erwartete mich dann?

Wir steuerten auf eine offenstehende Tür zu und als wir um die Ecke bogen und ich die Person sah, die dort auf mich wartete, blieb mir schlicht und einfach die Luft weg.

"Elyanor!", entkam es mir. Was tat sie denn hier?

"Hallo, Lucian", erwiderte sie ruhig.

Ich rührte mich nicht von der Stelle, obwohl ich wohl irgendetwas hätte tun sollen. Ihre Hand ergreifen, sie begrüßen oder sie fragen, wie es ihr ging. Doch ich war noch immer wie erstarrt. Ehrlich gesagt hatte ich nicht damit gerechnet, sie noch einmal wiederzusehen.

"Setz dich doch." Elyanor lächelte, als wäre alles in bester Ordnung und als wollte sie nur mal eben über die alten Zeiten plaudern. Doch ihre Augen verrieten sie. Die hatten sie schon immer verraten. Der Ausdruck in ihnen täuschte nicht. Sie war nervös.

Amelia stieß mich nicht unsanft in Richtung des freien Stuhls und bedeutete mir mit einer Geste, mich zu setzen. Die Handschellen nahm sie mir nicht ab. Rasch verbarg ich sie unter der Tischplatte.

"Ich hab dich im Auge, Whitaker." Amelia zeigte mit dem Finger auf mich, bevor sie ging und die Tür hinter sich schloss. Ich machte mir keine Illusionen. Sie würde sofort in den Raum gehen, von dem aus man durch die andere Seite des Spiegels zusehen konnte.

Sie würde nirgendwo hingehen. Allein mich mit der Königin im selben Raum zu lassen, dürfte ihr schwergefallen sein. Ich richtete meinen Blick wieder auf Elyanor und konzentrierte mich nur auf sie.

"Ich wollte noch einmal mit dir sprechen", begann sie, als sie sich meiner Aufmerksamkeit sicher war. "Ich weiß von deinem Verrat. Durch Amelia habe ich auch ein paar Details aus dem Verhör mitbekommen."

Stumm sah ich sie an. Elyanor hatte keine Frage gestellt, dennoch schien sie eine Antwort zu erwarten. Ich wartete und zwang sie damit, weiterzusprechen.

"Was hast du dir dabei gedacht?", brachte sie schließlich heraus und sah mich anklagend an.

Hitze stieg in meinen Kopf und ich versuchte fieberhaft, etwas Unverfängliches zu erwidern. Unter dem Tisch, sodass sie es nicht sehen konnte, begann ich, meine Hände zu kneten.

"Elyanor, ich hatte keine Wahl, ich-"

"Man hat immer eine Wahl", unterbrach sie mich und sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. "Wenn du mir nur zuhören würdest, dann würdest du erkennen, dass ich niemals die Absicht hatte, dich zu verletzen."

Ich sah zu, wie Amelia wartend die Arme verschränkte, ein wenig überrascht, dass sie mich nicht unterbrach. Ich beschloss, ihr die ganze Geschichte von vorne zu erzählen, darauf hoffend, sie möge mir vergeben.

Selection - ElyanorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt