Kapitel 30

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"Schmerz verlangt gespürt zu werden."

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Ich glaube, dass wir eine Wahl in dieser Welt haben. Die einen treffen die Richtige, andere die Falsche. Meine Wahl konnte ich nicht genau einordnen. Sie bestand daraus, Ardian nicht mehr alleine lassen zu wollen. Ich wollte ihn so oft wie möglich sehen, und doch schien es für mich so unmöglich wie fliegen zu lernen. Mein Leben ging geradewegs den Bach runter, glich einer Achterbahnfahrt. Es gab Momente, in denen ich sterben wollte. Es gab Momente, in denen ich einfach stundenlang mit Ardian reden wollte, und wenn es nur an dem dreckigen Tisch im Besucherraum des Gefängnisses war. Und es gab Momente, da wusste ich nicht mehr weiter. Ich hatte die Wahl, ob ich mit meinem Wagon, in dem ich saß, hinauf oder hinab fahren wollte. Ich entschied mich für das bittere hinauf. Es war nicht schön, und ich will es auch nicht schön reden. Nichts war zu dieser Zeit schön. Nichts erheiterte mich, nur Ardian's schwaches Lächeln, dass er sich aufzwang um etwas Sonne in mir aufgehen zu lassen. Aber es musste irgendwie wieder hinauf gehen, egal wie sehr ich mich dadurch quälen musste. Wäre Ju nicht gewesen, meine Mutter nicht gewesen, dann wüsste ich nicht wie ich mit Ardian's Verlust, soweit man es so bezeichnen konnte, klar gekommen wäre. Ich vergaß mit der Zeit ganz, wie es sich anfühlte ihn zu küssen. Wie es sich anfühlte ihn zu berühren, da ihm der Körperkontakt zu anderen Menschen verboten wurde. Ich vergaß ganz, wie es war, neben ihm aufzuwachen, und ich wünschte mir, ich hätte irgendwas unternehmen können. Aber die traurige Wahrheit war, ich konnte es nicht. Ich war machtlos und dabei in den Händen meines Gewissens zu ersticken. Ich war dabei in meinen Tränen zu ertrinken und ich wollte nichts dagegen tun. Ich wollte weinen, nur weinen und schlafen, mich übergeben und beten, dass alles besser werden würde, obwohl ich nicht einmal gläubig war. Manche Menschen mögen mein Gefühlschaos nicht verstehen, andere schon. Das ist okay, denn ich selber verstand mich auch nicht immer. Menschen sehen Dinge mit verschiedenen Augen, so wie Luna Ardian mit ihren grünen Augen ansah, die mich an eine gesunde Wiese oder prächtige Weiden erinnerten, und ich Ardian durch meine grünen Augen ansah, die mich selber eher an die Farbe eines verfallenen Apfels erinnerten, da sie glanzlos und leer geworden waren, seit er fehlte. Meine Stimmung hellte sich bloß auf, als ich ihn besuchen konnte, und das auch nur, nachdem mich der Wächter an der vorherigen Tür immer wieder mies begrapscht hatte. Wo er seine Hände überall hatte, wollte ich mir nicht wieder ins Gedächtnis rufen, als ich Ardian dann endlich wieder ansehen konnte und das Orange seines Overalls sich in ein helles Beige getauscht hatte.

Meine Mutter brachte mir bei, stets höflich, zuvorkommend und nett zu sein. Diese Eigenschaften trug ich mein Leben lang mit mir, aber als ich das Gefängnis des Öfteren anfing zu besuchen, da musste ich feststellen, dass das Leben ein Arschloch sein konnte, genau wie die weiteren Menschen dort. Ich legte diese Eigenschaften ab, ich hörte damit auf, den Wachleuten höfliche Antworten zu geben, da es einfach niemanden interessierte, wie dort gesprochen wurde. Dem kontrollierenden Wächter hätte ich am liebsten geschlagen für seine sexuelle Belästigung und nur Ardian's Anblick ließ mich die schlimmen Dinge um mich herum vergessen. Julien schaffte es nie, mich vergessen zu lassen. Er war für mich da, wie ein bester Freund es nun einmal war, doch ihm war auch bewusst, dass ich niemals wieder vergessen würde und diese Gitterstäbe im Besucherraum mir veranschaulichten, welchen Stellenwert Menschen überhaupt im Gefängnis hatten. Welchen Stellenwert die Gefangenen hatten. Sie wurden nicht mehr wie Menschen behandelt, sie waren für die Wächter und Polizisten wie Vieh, Ungeziefer die ein Fehler der Welt sind. Dabei besitzen sie eine Seele, Familie, die Rechte von Menschen, die ihnen mit aller Kraft versucht wurden zu entziehen.

"Stella? Bist du fertig? Wir fahren zu Dr.Chaplin wegen deiner Grippe. So geht das nicht weiter!", rief meine Mutter mir von unten zu und eilte daraufhin die Treppe hoch.

Sie sah mich an, schüttelte ihren Kopf. Ihren gekränkten Blick erwiderte ich trostlos und ausgelaugt. Man konnte gut behaupten, dass ich die Lust an meinem Leben nahezu verloren hatte - im größten Teil. Den Prozess in meinem Körper und Kopf konnte ich nur versuchen zu beschreiben. Ob sich jemals jemand so gefühlt hat, es nachvollziehen konnte, war fraglich und darauf konnte ich keine Antwort geben.

Innocent | Erkenne dein wahres Ich 2 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt