DESASTER

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Das war bloß ein seltsamer Zufall. Ich hatte meinen Dad zwar seit Jahren nicht mehr gesehen, aber er lebte in Kanada und er hatte keine Tochter. Keine außer mir. So etwas wüsste ich, ganz bestimmt. Als Harry sich alles aufgeschrieben hatte, verabschiedeten Abby und ihr Grandpa sich von uns. Ich lächelte mechanisch und winkte beiden zum Abschied. Harry sah mich stirnrunzelnd an. „Ist alles okay Ella?", fragte er. Ich nickte und zog mir die Schlittschuhe von den Füßen.
„Das war wirklich sehr sehr nett von dir Harry.", hauchte ich und bemühte mich weiter zu lächeln.
„Hmm... ja... Es ist lustig dass sie denselben Nachnamen hat wie du. Ich fand sogar dass sie dir ein bisschen ähnlich gesehen hat.", kicherte er. Ich zuckte zusammen und sah ihn entgeistert an.
„Hat sie ganz bestimmt nicht und es gibt viele Menschen mit diesem Namen!", fauchte ich und sprang auf. Ich knallte meine Schlittschuhe auf den Tresen des Verleihungsstandes und stürmte hinaus aus dieser Schlittschuhhölle.
„Ariella!", ich spürte seine Hand an meinem Arm, er hielt mich zurück und sah mich verwirrt an, „Was ist denn los?".
„Mir ist kalt und ich habe Hunger.", ich bemühte mich meine Stimme zu beruhigen, innerlich zerbarst ich jedoch beinahe. Ich musste die Telefonnummer dieses Mannes sehen, ich wollte sicher sein, dass dieser Edward Wind nicht mein Vater war.
„Wie wär's? Wir holen uns jetzt zwei Becher heißen Kakao, fahren zurück in die Wohnung und bestellen uns Essen.", er lächelte mich hoffnungsvoll an, „Und du darfst dir den Film aussuchen.".
Seine Augen strahlten wieder diese Wärme aus, die mich jedes Mal willenlos machte.
Ich seufzte und nickte. „Das klingt nach einem fantastischen Plan Harry.", sagte ich und verschränkte meine Finger mit seinen.

In der Wohnung angekommen, verschwand Harry schnell unter die Dusche. Sein Telefon lag auf der Küchentheke.
Konnte ich es wirklich wagen und in sein Handy sehen? Ich wollte ja immerhin keine SMS lesen oder ihm irgendetwas nachweisen. Ich wollte bloß sichergehen, dass mein Vater mich nicht belogen hatte. Ich wollte bloß erleichtert aufatmen und ein schönes Weihnachtsfest verbringen, um ihn in drei Tagen zu treffen und mich zu freuen, dass ich meinen Daddy nach drei Jahren wiedersah.
Das letzte mal war er geschäftlich in Exeter, er war allein und nur für zwei Tage in der Stadt. Wir hatten zusammen in einem Restaurant zu abend gegessen. Zumindest damals hätte er mir doch sagen müssen, dass er und Candence, so hieß seine Frau, Nachwuchs hatten.
Ich kaute nervös auf der Innenseite meiner Wange als ich Harrys Telefon in die Hand nahm. Meine Finger zitterten, als ich die Tastensperre löste. Mein Gesicht strahlte mir entgegen, ich war sein Hintergrund.
Schnell ging ich in die Kontakte und suchte nach Edward Wind.
„Fuck.", entfuhr es mir als ich die Nummer sah. "Fuck. Fuck. Fuck.".
Er war es. Hastig legte ich das Telefon zurück.
Das konnte nicht sein, mein Dad lebte in Kanada, er hatte gesagt, er würde extra nach Weihnachten nach New York fliegen. Was machte dann dieses Kind mit ihrem Großvater hier? Hier musste ein Missverständnis vorliegen. Mein Herz klopfte wild in meiner Brust und ich starrte angeekelt auf das Telefon.
Als ich hörte wie sich die Badezimmertüre öffnete, rannte ich eilig in den Flur.
Harry sah mich verdutzt an. Um seine Hüften war bloß ein Handtuch gewickelt, seine Brust glänzte feucht und seine Haare tropften. Unter normalen Umständen hätte ich jetzt nach Luft geschnappt und hätte wie ein Reh im Scheinwerferlicht diesen Mann angestarrt, doch in meinem Kopf drehte sich alles. Wortlos ging ich an ihm vorbei und schloss die Badezimmertür hinter mir ab.
„Ariella?", hörte ich seine Stimme gedämpft von der anderen Seite.
„Ich will bloß ungestört duschen.", antwortete ich matt.
„Wieso sperrst du die Tür zu? Ist alles okay?"
„Ja Harry, aber ich kenne dich, ich hätte gerne einfach ein paar Minuten für mich.", rief ich und bemühte mich freundlich zu klingen.
Ich hörte ihn seufzen und Schritte die sich von der Tür wegbewegten.
Ich stand vor dem Waschbecken und starrte mein Spiegelbild an.
Ich hatte die gleichen Augen wie mein Dad. Groß und Grün. So wie Abbys, schoss es mir durch den Kopf. Es war sogar Harry aufgefallen, wir sahen uns wirklich ähnlich. Sie sah aus wie er. Wieso zum Teufel hatte er mir nie etwas gesagt? Er hatte mir eine kleine Schwester verheimlicht? Aber warum? Er hatte zwar die Ehe mit meiner Mum beendet und mich damit auch auf eine gewisse Weise aufgegeben, doch er hatte mich jedes Jahr zu meinem Geburtstag angerufen, er hatte mir Geschenke geschickt und meiner Mum Unterstützung angeboten, die sie jedoch aus purem Stolz abgewiesen hatte.
Mein Dad hatte uns vor sechs Jahren verlassen, Abby war fünf.
Wusste meine Mutter von ihr? War das der Scheidungsgrund gewesen?
Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf, während ich dastand und mein Spiegelbild entsetzt anstarrte Dicke Krokodilstränen rannen mir übers Gesicht. Ich musste wissen was hier los war.
Ich drehte die Dusche auf und ließ mich auf den Boden sinken, das heiße Wasser rann über meinen nackten Körper, doch ich spürte es beinahe nicht. Ich starrte emotionslos an die Wand und versuchte eine Antwort auf meine Fragen zu finden. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich hier gesessen hatte, Harrys Klopfen riss mich aus meinen Gedanken.
„Okay, du sagst mir jetzt entweder was los ist, oder ich komm' jetzt rein.", sagte er streng.
Ich seufzte, wischte mir übers Gesicht und drehte das Wasser ab.
„Ich komm' schon, ich hab mich nur ein bisschen aufgewärmt.", rief ich.
„Lass mich rein Ella.", drängte er.
Ich stöhnte genervt auf und öffnete die Tür.
Er musterte mein Gesicht eingehend.
„Du hast geweint.", stellte er mit rauer Stimme fest. Wortlos zog er mich in seine Arme. Die Nähe und Wärme seines Körpers machte alles nur schlimmer, ich begann hemmungslos zu schluchzen und presste mich an ihn.
„Hey. Liebling, was ist denn los?", flüsterte er und strich mir besänftigend über mein nasses Haar.
Ich wollte ihm nicht die Wahrheit sagen, nicht bevor ich nicht selbst wusste was hier los war. Also log ich.
„Ich habe Angst, dass das Fest nicht so schön wird wie ihr euch erhofft habt.", schniefte ich, „Meine Mum und ich sind keine Weihnachtsmenschen und außerdem haben wir unseren Streit noch immer nicht geklärt.".
„Und ich vermisse Mel.", fügte ich hinzu.
Eigentlich log ich ihn nicht an, es stimmte alles, es war nur nicht der Grund wieso ich hier stand und sein T-Shirt einsaute.
„Du bist hier mit mir, wir beide verbringen zusammen Weihnachten in New York. Das ist das einzige was zählt für mich. Lass deine Mutter so miesepetrig sein wie sie will. Ich habe dich hier, ein schöneres Fest kann ich mir nicht vorstellen.", sagte er sanft und hob mein Kinn an, damit ich ihm in die Augen blicken musste. Er beute sich zu mir und küsste meine Tränen weg. Sanft strich er mir mein Haar aus dem Gesicht und blickte mich liebevoll an.
„Es wird alles gut gehen, mach dir nicht so viele Gedanken.", flüsterte er.
Meine Brust schmerzte, ich spürte wie sich mein Herz zusammenzog. Er war so unglaublich süß, doch ich war mir sicher dass ich ihn enttäuschen würde.
Er würde sicher verletzt sein, wenn er jemals herausfinden sollte, was wirklich mein Problem war.
Aber manchmal war man eben so traurig und verletzt, dass man sich niemandem anvertrauen konnte Die eigene Traurigkeit in Worte zu fassen und auszusprechen was mich wirklich bedrückte, schien mir irgendwie noch schlimmer, als zu schweigen. Wenn ich es laut aussprechen würde, gab es keine Zweifel mehr daran. So behielt ich es lieber für mich und lebte mit dem kleinen Funken Hoffnung dass es für alles eine plausible Erklärung geben würde. Deswegen lächelte ich ihn breit an und küsste ihn zärtlich.
„Unsere Familien kommen morgen.", flüsterte er leise, seine Augen wurden dunkel und blitzten verwegen auf, „Wie wäre es mit einem kleinen Vorweihnachtsgeschenk?", grinste er und ließ seine Finger sanft über mein Schlüsselbein wandern.
Ich schauderte, gegen seine Berührungen würde ich wohl nie immun werden.
Langsam öffnete er den Knoten meines Handtuchs und ließ es zu Boden fallen.
„Merry Christmas.", kicherte ich leise und zog sein Gesicht zu meinem.

Wir verbrachten den Abend damit, eine Unmenge von indischem Essen zu verdrücken und uns amerikanische Talkshows anzusehen. Irgendwann schliefen wir wohl auf dem Sofa ein.
Die Türklingel ließ uns beide hochschrecken.
Verwirrt setzte ich mich auf.
Harry stöhnte genervt auf. „Wie immer überpünktlich.", seufzte er und küsste mich auf die Stirn, „Na dann, los geht's.", brummte er und trottete zur Tür.
Ich rannte eilig ins Schlafzimmer um mich anzuziehen. Ich wollte Harrys Familie wirklich nicht nur in seinem T-Shirt und einem Höschen entgegen treten.
Als ich zurück in die Küche kam, stand Anne da und hielt Harry fest an sich gedrückt.
„Mum, ich krieg keine Luft.", jammerte er, doch seine Augen strahlten.
„Das macht nichts mein Liebling, das muss so sein.", lachte Anne. Sie ließ jedoch sofort von ihm ab, als sie mich sah.
„Ella! Herzchen! Frohe Weihnachten!", rief sie und zog mich ebenfalls in ihre Arme.
Aus dem Augenwinkel sah ich wie drei weitere Personen die Küche betraten. Gemma, Robin und meine Mum. Ihr Blick verfinsterte sich, als sie Anne und mich sah. Sofort löste ich mich sanft aus Annes Umarmung und eilte auf meine Ma zu.
„Wie war dein Flug?", fragte ich hastig und küsste sie auf die Wange. Sie zog mich in eine feste Umarmung, was mich wirklich sehr überraschte. Meine Mutter war kein Mensch, der viel auf körperliche Nähe gab. Sie umarmte mich sehr selten. Früher, als mein Dad noch bei uns war, war sie ganz anders gewesen. Sie hatte für mich gesungen, wenn ich traurig war, hatte mir Gute Nacht Geschichten vorgelesen und mich auf ihren Schoß gesetzt um mir die Haare zu bürsten. Doch als er gegangen war, hatte er ihre Liebe anscheinend mitgenommen. Seitdem war sie eher distanziert und kalt. Vielleicht lag es daran, dass sie jedes Mal in seine Augen blickte, wenn sie mich ansah.
„Lange, aber wirklich komfortabel.", antwortete sie und lächelte zu Anne hinüber. Anne hatte darauf bestanden, dass meine Mum gemeinsam mit ihr und ihrer Familie flog.
Ich begrüßte Gemma und wandte mich dann an Robin. Ich sah ihn heute zum ersten Mal. Er sah ganz anders aus, als ich es mir erwartet hatte.
Harrys Mum war mit 44 noch sehr jung für eine 23 Jahre alte Tochter und einen 21 Jahre alten Sohn. Sie war eine sehr attraktive Frau mit einem sehr guten Modegeschmack. Robin war um ein paar Jahre Älter als sie, Mitte fünfzig. Er hatte einen kleinen Bauch und eine Glatze. Sein Gesicht war freundlich und lustig. Er trug einfache Jeans und ein Holzfällerhemd. Die beiden gaben ein lustiges Bild ab. Harry begrüßte den Rest seiner Familie und meine Mutter ebenfalls und zeigte meiner Ma ihr Schlafzimmer.
„Erica und ich haben beschlossen, gemeinsam zu kochen.", trällerte Anne als sie sich zu mir auf das Sofa setzte. Ich starrte sie entgeistert an. Wenn es eine Sache gab die meine Mutter wirklich nicht konnte, dann war das Kochen.
„Toll.", hauchte ich. Dieses Fest wurde immer schlimmer.

Lost and found ( lost doesn't mean alone Teil 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt