CAP 1

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Wir beginnen am Anfang (wo sonst?)

Es war kalt und regnerisch an diesem Morgen. Früh war es, gerade sechs Uhr, und noch war er alleine auf dem Bahnsteig. Auf den anderen Gleisen fuhren Züge ein und aus, stoben ihre weißen Dampffahnen in den Wintermorgen und kündigten ihre Einfahrt mit schrillem Pfeifen an. Die Menschen drängelten sich und versuchten vor allen anderen in die Waggons zu gelangen. Dichte Eisblumen zierten die Fenster der Waggons, in denen so viele andere Menschen darauf warteten, am Ziel der Reise endlich auszusteigen oder diese endlich fortsetzen zu können. Und obwohl sie ihm so nahe wahren, nahm er sie nicht wahr, fühlte sich alleine und frei, bemerkte auch nicht das Drängen an den anderen Gleisen. Auf seinem Steig befand sich keine andere Menschenseele, als er selber. Bald würde auch hier ein Zug ankommen und sie würde aussteigen. Sie, Eloise würde zu ihm zurückkommen, nach so langer Zeit, und er würde sie in seine Arme schließen, und beide würden zugleich das Eine sagen: "Ich liebe Dich, vergib mir..."

Doch noch musste er sich etwas gedulden und in der eisigen Kälte ausharren. Eine Katze lief über die Gleise, es hörte auf zu schneien. Deutlich sah er die Risse im vertrockneten Holz des Bahnhofsschilds. RODRIGANDA stand da in alten verwitterten Buchstaben; die weiße Farbe blätterte ab, und es roch nach Fisch. Dort am Rande des alten Bahnhofs standen noch ältere Bäume, bemerkte er, knorrig und ganz schaurig in ihrer Form, doch da konnte man gut raufklettern und... Ein jäher Schmerz riss ihn aus seinem selig ruhigen Schlaf. Seine Bauchdecke pochte.

'Träume sind Schäume', dachte er, doch der Schmerz blieb. Er drehte sich um und entdeckte Eloise. Sie schlief tief und fest. Durch das offene Fenster fiel der Schein des Mondes auf ihr ebenmäßiges Elfengesicht und umgab es mit einer geheimnisvollen Aura. An seinen Füßen hatten es sich Waltraut und Wilma, die beiden Katzen, gemütlich gemacht, und er spürte die Wärme, die von ihren kleinen Körpern ausging. Leise stand er auf, warf einen leichten Mantel über, und verließ das Zimmer. Wilma öffnete zwar kurz die Augen, war aber zu müde, um ihm nachzugehen. Victor ging in die Küche, um etwas zu trinken. Er öffnete den Wasserhahn und das kühlende Nass rauschte in sein Glas.

'Aah, das wird mich erfrischen!', dachte er. Er hob das Glas, setzte an, nahm einen tiefen Schluck und spuckte sogleich alles quer durch die Küche. Rostwasser. Der Schmerz war jetzt deutlicher geworden. Unwillkürlich dachte er an das letzte Jahr zurück, als er noch boxte und in seinem letzten Kampf zwei schwere Tiefschläge hatte einstecken müssen. Der Schmerz zog sich damals ähnlich stark durch seinen Körper. Auf dem Weg zum Bad passierte es dann. Cremig braun lief es aus ihm raus und an seinem Bein entlang. Er fluchte und sprang schnell in die eiskalte Wanne. Durchfall machte ihn marode.

Nach etwa einer halben Stunde kam er, frisch gebadet, mit schlotternden Gliedern und klappernden Zähnen, aber angenehm wach und nach Lavendel duftend zurück ins Schlafzimmer. Er schaute auf seinen kleinen Reisewecker. Drei Uhr zehn. Victor trat an das Fenster, machte es zu und schaute dann hinaus. Die weiße Farbe des Rahmens blätterte ab und es roch nach Fisch. Hinter seinem Rücken wälzte sich Eloise im Bett herum und er dachte an den gestrigen Abend und den Streit zurück. Wie sie jetzt so dalag konnte man meinen, es sei gar nichts geschehen. Victor war nicht mehr ärgerlich. Er stieg zurück ins Bett und drehte sich zu Eloise. Sie lag auf der Seite und ihr Mund war halb geöffnet. Weich strich ihr Atem über sein Gesicht.

'Du musst sie jetzt küssen', sagte er sich, und seine Lippen näherten sich erwartend den ihren. Doch plötzlich schoss ihm wieder dieser Schmerz in den Darm, und er rannte zurück ins Bad. Jetzt war er wieder ärgerlich, sehr ärgerlich, und die weiße Farbe blätterte ab und es roch nach Fisch.









Einer ist schon tot. Ein Leben auf Raten.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt